Noch fünf Minuten bis zum Anpfiff. Die letzten Klänge der Rolling Stones plärren aus den Boxen. Paint it black, singt Mick Jagger. Dann ist Ruhe. Der schwarz-gekleidete Haufen im „Block E“ übernimmt das musikalische Zepter. Die erste Trommel erklingt, tok-tok-tok. Die zweite steigt ein. Aus 60 Kehlen erklingt der erste Schlachtruf: „Wir sind die letzten Reutlinger – tok-tok-tok – wir sind immer da!“
Die Ultras des schwäbischen Oberligisten SSV Reutlingen bilden die einzige ernsthafte Ansammlung von Menschen im Stadion an der Kreuzeiche. Die Tribünen bieten Platz für 15.000 Zuschauer, 600 verlieren sich an diesem Samstag im weiten Rund – die gesamte Südtribüne unter der Anzeigetafel ist gesperrt. Das Stadion liegt da wie ein schöner Mantel, der sechs Nummern zu groß ist.
Ihr Capo heißt Fabian Maier und hat früher Philosophie studiert
Die Spieler laufen ein. Fabian Maier dreht ihnen den Rücken zu. Er steht am Fuße von „Block E“. In einer Mischung aus Dirigent und Vorarbeiter brüllt er seine Kollegen an. Er rudert mit den Armen, als wolle er über das Stadiondach hinwegfliegen.
Fabian Maier, 29, ist Kopf und Capo der „Szene E“. Auch von der Gegengerade ist er noch deutlich zu erkennen: 1,90 groß, athletische Figur, sonnengegerbte Haut. Früher hat er Philosophie studiert, heute arbeitet er als Montageleiter. Er wirft einen Blick über seine Schulter, das Spiel hat begonnen. Maier gibt den Trommlern ein Zeichen, holt tief Luft und setzt an: „REUT-LIN-GEN“. Die schwarzen Schäfchen vor ihm steigen ein. Immer schneller. „REUT-LIN-GEN/REUT-LIN-GEN“.
Der SSV Reutlingen war mal eine Adresse im deutschen Fußball. In den 1960ern war der Klub auf Augenhöhe mit Bayern München, kämpfte um den Aufstieg in die Bundesliga. Zur Jahrtausendwende spielte der Klub in Liga zwei. Nach Abstiegen, Misswirtschaft und der Insolvenz im vergangenen Jahr heißen die Gegner heute nicht mehr VfL Bochum und Hannover 96, sondern Normannia Gmünd und FV Illertissen. Für die „Szene E“ ist das Fluch und Segen zugleich. „Ohne den sportlichen und wirtschaftlichen Abstieg, wären wir als Ultras heute nicht in der Position, in der wir sind“, sagt Maier. Wer eine Karte für „Block E“ haben will, muss sich an die „Szene E“ wenden, nicht an den Verein.
Die Kurve selbst verwalten – ein Traum für Ultras. „Bundesligisten wie Dortmund und Bayern würden Ultras am liebsten ausschließen, das Stadion ist auch ohne sie voll. Beim SSV ist das anders“. Mannschaft und Verein stehen hinter den Ultras. „Einige Spieler sind gerade wegen der „Szene E“ zu uns gewechselt“, sagt SSV-Urgestein Andreas Rill. „Sie haben auf Kohle verzichtet, um vor richtigen Fans zu spielen.“ Die Spieler vom SSV verdienen 250 Euro im Monat, bei anderen Vereinen aus der Liga ist es ein Vielfaches.
„Pisskopf“, sagt einer der Alten. Ein anderer lacht.
Gegenüber von „Block E“ steht diese Mischung aus Rentnern und Kindern, die man häufig bei unterklassigen Spielen sieht. Als wäre eine ganze Generation nicht eingeladen worden. „Pisskopf“, sagt einer der Alten. Ein anderer lacht. Es ist nicht klar, wen er beleidigen will – den Schiedsrichter, den gegnerischen Stürmer oder den eigenen Torwart. Das Spiel des SSV ist schwach. In „Block E“ singen die Ultras: „Scheiß egal, wo Du auch spielst/ob Du gewinnst oder verlierst.“
Es herrscht eine seltsame Koexistenz: Dort die Ultras, die Stimmung machen; hier die alten, verschnupften Rentner. „Die sind doch verrückt“, sagt einer und nickt in Richtung schwarzer Block. Dann winkt er ab. Die Mannschaft unterstützen sie durch Gemurmel, die Lieder der Ultras singen sie nicht mit.
„Wir wollen nicht ewig in der Oberliga festhängen.“
Zum Beginn der zweiten Hälfte geht Reutlingen in Führung. Wie Tetris-Blöcke türmen sich die Spieler vor „Block E“. Der Dauergesang bricht ab, für einen flüchtigen Moment jubelt jeder individuell.
Fußballfans wollen, dass ihr Verein erfolgreich ist. Ultras sind da keine Ausnahme. „Wir wollen nicht ewig in der Oberliga festhängen. Ein paar der Jüngeren kennen es gar nicht anders, ich kann mich aber noch gut an die Zweitliga-Zeiten erinnern“, sagt Maier. „An Auswärtsfahrten nach Mönchengladbach, auf den alten Bökelberg, nach Köln ins Müngersdorfer Stadion.“ In der Oberliga bietet ihnen niemand Paroli. Gmünd und Iltertissen haben keine Ultras. Und: Die „Szene E“ will sich präsentieren, Flagge zeigen – das gehört zum Selbstverständnis von Ultras. In der fünften Liga gibt es keine Bühne für sie. Die Banner, die beim Spiel gegen den Bahlinger SC hängen, zeigt die Sportschau nicht.
Es bleibt beim 1:0. Knapp eine halbe Stunde nachdem die übrigen Zuschauer nach Hause gegangen sind, spuckt das Stadion die letzten Ultras aus. „Jetzt geht’s zu Freunden von uns, griechischen Ultras von Paok Saloniki. Vielleicht gewinnen wir ein paar Jungs für das Spiel gegen Ulm“, ruft Maier vom Beifahrersitz des vollgepackten VW-Polo. „Wart mal!“ Maier springt aus dem Auto und klebt einen Sticker auf ein Stoppschild: „DERBY! Alle mit dem Zug nach Ulm.“
„Ich habe nur geschaut, ob ich die Fahne der HSV-Ultras sehe.“
„Die Spiele gegen Ulm halten die Gruppe zusammen. Das gibt die Motivation für die ganze Saison“. Auch Ulm spielte einst im Profifußball. Einige Ultras sind noch übrig geblieben. Zwei Spiele im Jahr, zwei Anlässe die Oberliga-Tristesse für 90 Minuten zu vergessen.
Der Kellerraum der Griechen versprüht den Charme einer Vereinskneipe: Wimpel, Kicker, Großbildleinwand. Hinter der Theke hängt ein gerahmtes Bild von Osama Bin Laden im Trikot von PAOS Saloniki. „Photoshop“, sagt der Barmann und lacht als hätte er einen zotigen Witz gerissen. Im Hintergrund läuft das Samstagabendspiel der Bundesliga, Hamburger SV gegen den VfL Wolfsburg. Die Ultras interessiert das nicht. Nur einmal dreht sich Fabian Maier um. „Ich habe nur geschaut, ob ich die Fahne der HSV-Ultras sehe“, sagt Maier.
600 Ultras in Hamburg, 60 in Reutlingen – ein beachtlicher Wert
Bundesligaklubs wie Hamburg oder Frankfurt haben bis zu 600 organisierte Ultras, in Reutlingen sind es etwa 60 – mit Blick auf die Mitgliederzahl ein beachtlicher Wert. „Wir wollen genauso kreativ sein, wie die da oben“. Wenn man sich schon sportlich nicht messen kann, dann zumindest auf der Tribüne.
Maier schaut nicht viel Fußball abseits vom SSV. Wie der rechte Verteidiger von Borussia Dortmund heißt, weiß er nicht. In der deutschen Ultra-Szene kennt er sich aber genau aus – Protagonisten, Gruppierungen, Philosophien. „Wenn wir 5:0 gegen Nöttingen gewinnen, kriegt das in Dortmund keine Sau mit. Wir Reutlinger Ultras sind bundesweit bekannt – zumindest in der Szene.“ Die Spielberichte vom SSV stehen in der Lokalzeitung. Über die Choreographien der „Szene E“ schreibt das bundesweite Ultra-Magazin „Erlebniswelt Fußball“.
Kein Hakenkreuz, sondern die Reutlinger Skyline
„Die Lokalpresse schreibt in der Regel zwei Dinge über uns: gewalttätig und rechtsradikal“, sagt Maier. „Da steht nie: Tolle Unterstützung durch Ultras. Meist werden die Polizeimeldungen einfach kommentarlos abgedruckt“.
Mit einem Stottern kommt der Polo in der Reutlinger Südstadt zum Stehen. Hier liegt das Hauptquartier der „Szene E“. Der Raum erinnert an ein Jugendzentrum: helle Holzmöbel, PVC-Boden. Fabian Maier lässt sich auf ein durchgesessenes Sofa fallen. Über ihm prangt kein Hakenkreuz, sondern ein Graffiti der Reutlinger Skyline mit dem Stadion im Mittelpunkt.
Ein Grund für die schlechte Presse liegt in der Vergangenheit der „Szene E“, einer ihrer Gründer war Chef der „Heimattreuen Vereinigung Deutschlands“ – einer Gruppierung, die Adolf Hitler verehrte und 1993 verboten wurde. Das wussten die Ultras. „Wir sind unpolitisch. Bei uns darf jeder mitmachen, so lange es um den Support vom SSV geht, nicht um Politik.“ Im Falle des alten Nazi-Kaders würden sie heute allerdings anders handeln. Der Schaden bleibt. Die „Reutlinger Nachrichten“ bezeichneten die „Szene E“ in einem Artikel aus dem letzten Jahr noch als „rechtsgerichtete Gruppe von SSV-Reutlingen-Fans“. Dagegen wehrt sich Maier: „Bei uns gibt es keine Nazis“. Zwischen der Szene und dem Chef der „Heimattreuen Vereinigung Deutschlands“ herrscht seit Jahren Funkstille.
Schlägerei in Stuttgart. „Die Dortmunder haben angefangen.“
Am vergangenen Wochenende sorgte die „Szene E“ erneut für Negativschlagzeilen. Am Stuttgarter Bahnhof „griffen Anhänger des SSV Reutlingen eine Gruppe Dortmunder Fans in der Unterführung zu den Bahnsteigen an“, schreiben die Reutlinger Nachrichten. Maier sagt, die Dortmunder hätten angefangen, seine Jungs hätten sich nur verteidigt. Zwei Anhänger vom SSV wurden verhaftet, die aus Dortmund konnten nach Hause fahren. „Die Bullen nehmen lieber Ultras fest, das ist prestigeträchtiger als dahergelaufene Fans aus dem Ruhrpott“, sagt Maier. Er lacht, lustig findet er es nicht.
Wenn Fabian Maier von der „Szene E“ erzählt, vergisst er die Zeit. Der Moods-Cigarillo verendet im Aschenbecher, immer wieder muss er den Stummel anzünden. Wie Marlon Brando in „Der Pate“ sitzt Maier im Hinterzimmer, während nebenan gefeiert wird. Ein kurzes Kopfschütteln reicht und der Nachwuchs weiß, dass jetzt besser nicht Kicker gespielt wird.
„Ich will keinen sehen, der wegrennt!“
Gewalt ist kein zentraler Aspekt der „Szene E“, ein Thema ist sie dennoch. „Wenn wir angegriffen werden, soll sich jeder verteidigen. Ich will keinen sehen, der wegrennt“, sagt Maier. Es geht um Machtdemonstration, um Platzhirschgehabe. Die „Szene E“ besteht fast ausschließlich aus Männern zwischen 16 und 30. „Wir kommen als geschlossener Block. Uns pöbelt besser niemand an. Wenn es knallt, knallt es halt. Das kommt beim Fußball vor.“
Gerade in der schwäbischen Oberliga ist die „Szene E“ berüchtigt. Maier versucht aufzuklären. „Vor der Saison haben wir einen Brief an alle gegnerischen Vereine geschickt. Wir haben den Dialog gesucht, geantwortet hat kaum jemand.“ Zum Einsatzleiter der Polizei aus Gmünd hatte die Szene ein gutes Verhältnis, durften in der letzten Saison sogar aus dem Gästeblock auf die Haupttribüne wechseln. In diesem Jahr gibt es einen neuen Einsatzleiter. Am Hauptbahnhof empfingen 50 Polizisten die Ultras. Sie durften weder aufs Klo, noch Zigaretten kaufen, bis der Polizeitrupp sie am Gästekäfig abgeliefert hatte.
In Reutlingen bestimmen die Ultras sogar den Präsidenten
„Die Polizei haut lieber drauf, als sich mit unserer Sache zu beschäftigen.“ Für Maier sind die Männer in grün ein rotes Tuch: „Ich hatte nie etwas gegen die. Seit ich zum Fußball gehe hat sich das geändert.“ Maier spricht eloquenter als ein Montageleiter und direkter als ein Philosophie-Student.
Sind Ultras von der „Szene E“ mit der Polizei aneinandergeraten, meldet sich der Verein zu Wort: „Wir sehen die Ultras positiv, alles finden wir natürlich nicht toll,“ sagt der Vorstandsvorsitzende Eberhard Spohn. „Klar sagt der Spohn, dass er uns gut findet, was soll er auch sonst machen?“, sagt Fabian Maier und lacht. Zu den Mitgliederversammlungen des SSV kommen 100, vielleicht 150 Leute. Die „Szene E“ bildet auch hier die größte Gruppe. Keine Satzungsänderung ohne Zustimmung der Ultras. Maier weiß um diese Macht. Das aktuelle Präsidium wurde in enger Absprache mit den Ultras zusammengestellt. „Das Präsidium ist mit unserem Segen eingesetzt worden, wenn man es überspitzt formuliert.“
Das Spiel ist zu Ende. Maier wird in Gewahrsam genommen
Die Party läuft noch, auch wenn einige schon nach Hause gegangen sind. Der heutige Sieg gerät in den Hintergrund, das Derby ist Gesprächsthema Nummer eins.
Am Tag des Derbys sitzt auch Fabian Maier im Zug nach Ulm. Er ist angespannt. Eigentlich darf er gar nicht hier sein. „Ich habe Stadionverbot, in Nöttingen bin ich über einen Zaun geklettert – eine Lappalie“, sagt er. Während seine Kollegen im Block Stimmung machen und „die letzten Reutlinger“ besingen, steht Maier vor dem Stadionzaun. Ein Polizist aus der Hundertschaft wird auf ihn aufmerksam. „Kommen sie mal mit“. Maier wird in Gewahrsam genommen. Der Einsatzwagen zur Verwahrung steht im Stadioninneren. „Sie wissen schon, dass ich hier eigentlich nicht rein darf“, sagt Maier und grinst. Der Polizist verzieht keine Miene.