Hansi Müller war einer der ersten Popstars der Bundesliga. Er wurde Europameister und Vizeweltmeister. Dabei träumte er eigentlich von einer DJ-Karriere. Heute wird er 65 Jahre alt.
Das Interview erschien erstmals im März 2020 in 11FREUNDE #220. Das Heft gibt’s hier im Shop.
Hansi Müller, zu Beginn müssen wir etwas richtigstellen: Sie sind nie „Bravo-Boy“ geworden.
Ich wurde Sechster. Dank meines Bruders, der mich ohne mein Wissen bei der Wahl angemeldet hatte. Eines Tages rief ein „Bravo“-Redakteur bei uns zu Hause an: „Hansi, du bist beim Finale dabei.“ Ich war erst irritiert, sagte aber zu. Eine irre Show war das, tausende Mädchen in der Berliner Deutschlandhalle und zehn Jungs, die in verschiedenen Wettbewerben gegeneinander antreten mussten.
Auch wenn Sie nicht gewonnen haben, trugen Sie danach den Spitznamen „Bravo-Boy“. War es anstrengend, einer der ersten Popstars der Bundesliga zu sein?
Einige Spieler, Werner Lorant etwa, schossen sich drauf ein. Ständig drückte der mir Sprüche: „Da kommt er ja, der Bravo-Boy!“ Oder: „Ach, der Rasen-Travolta! Dich hau ich über die Bande!“
Zu Ihrem 21. Geburtstag erhielten Sie 6000 Glückwunschkarten. Einige Groupies legten Nacktfotos bei, ein Mädchen schrieb: „Ich komme in die Kabine. Ich kenne einen Ordner. Sei bloß kein Feigling!“
In jener Zeit verschickte der VfB jährlich etwa 250 000 Autogrammkarten von mir. Natürlich fand ich es schön, dass ich beliebt war. Aber ich habe mich mehr über die „Trofeo Bravo“ (Bester Nachwuchsspieler Europas, d. Red.) der italienischen Zeitschrift „Il Guerin Sportivo“ oder das Lob eines Fans nach einem Tor gefreut.
Machte für den VfB Stuttgart, Inter Mailand, Calcio Como und den FC Swarovski Tirol 518 Spiele und schoss 145 Tore. Mit der DFB-Elf (42 Länderspiel, fünf Tore) wurde er 1980 Europameister, und 1982 Vizeweltmeister. Nach seiner Karriere arbeitete er u. a. im Vorstand und im Aufsichtsrat des VfB. 2014 wurde er in den Gemeinderat von Korb gewählt. Heute spielt er in der VfB-Traditionself und tritt als Redner auf (hansi-mueller.com).
1975, als Sie „Bravo“-Sechster wurden, begann Ihre Profikarriere. Parallel machten Sie Ihr Abitur. Wie kamen Sie mit dieser Doppelbelastung zurecht?
Es war hart, das Abi schaffte ich mit Ach und Krach. Einmal schrieb ich an einem Samstagmorgen eine Klassenarbeit, wir hatten aber nachmittags ein Spiel in Bayreuth. Also ließ mich der VfB mit einer Cessna von Stuttgart zu einem nahegelegenen Militärflughafen fliegen, und von dort ging es mit einem Auto zum Stadion. Ein immenser Aufwand. Als ich ankam, sagte unser Trainer Jürgen Sundermann: „Hansi, was für ein Stress, setz dich mal auf die Bank, brauchst nicht spielen. Und später fährst du gemütlich mit uns im Mannschaftsbus nach Hause.“
Mit Sundermann kehrte der VfB nach zwei Jahren in der zweiten Liga zurück in die Bundesliga. Was zeichnete ihn aus?
Er setzte auf die Jugend und fand die richtige Ansprache. Er hat noch heute einen guten Humor. Neulich fragte ihn jemand, warum er nur ein Länderspiel gemacht habe, und er sagte: „Herberger hat gesehen, dass ich viel besser war als meine Mitspieler. Er wollte sie durch meine Einsätze nicht demoralisieren.“
Gleich im ersten Bundesligaspiel ging es gegen die Bayern. Bammel?
Respekt! Bayern war amtierender Weltpokalsieger, wir hatten wenige Wochen zuvor noch gegen den KSV Baunatal und BSV 07 Schwenningen vor 2000 Zuschauern gekickt. Und nun stand ich neben meinem Idol Franz Beckenbauer. Wir holten ein 3:3, ich verwandelte zwei Elfmeter, den Ausgleich erzielten die Bayern erst kurz vor Schluss. Es brach eine große Euphorie in der Stadt aus. Wir hatten einen Zuschauerschnitt von über 50 000 (Bestwert der Saison, der BVB lag mit 37 000 Zuschauern auf Platz zwei, d. Red.), wurden als Aufsteiger sensationell Vierter und 1978 sogar Vizemeister.
„Inters Manager brachten mir ein kleines Modell des San Siro mit. Da wirst du spielen, sagten sie. Ich bekam eine Gänsehaut“
1984 gewann der VfB den Titel. Sie waren aber zuvor zu Inter Mailand gewechselt. Haben Sie den Schritt später bereut?
Ich hatte fünf Jahre in der Bundesliga gespielt und wollte eine neue Herausforderung. Sportlich und natürlich auch finanziell war das Angebot reizvoll. Das war ja nicht irgendein Klub, das war Inter Mailand! Aber es stimmt, die Zeit in Italien war nicht immer einfach. Ich war oft verletzt, ständig trug ich einen Eisbeutel an einer Schlaufe mit mir herum. Die Presse schrieb negativ über mich, und meine Mitspieler sagten: „Hansi, ist der Eisbeutel dein bester Freund?“
Dabei begann Ihre Zeit bei Inter gut. Sie verwandelten in den ersten zwei Spielen jeweils einen Freistoß in den Winkel.
Inter hatte große Hoffnung in mich gesetzt. Die Manager waren nach Stuttgart gekommen, um mir den Wechsel schmackhaft zu machen. Während der Verhandlung zogen sie eine Marmorplatte hervor, kaum größer als eine Tafel Schokolade. Auf den Sockel war detailgetreu ein Miniatur-Modell des San Siro geschraubt, mitsamt den stählernen Verstrebungen und Säulen. Sie sagten: „Hansi, da wirst du spielen.“ Ich bekam eine Gänsehaut.
Wie war das Stadion in echt?
Der Rasen wirkte wie ein Schachbrett, er war so sauber geschnitten, kein Vergleich zu deutschen Plätzen. Am Millerntor konnte man ja froh sein, wenn der Ball rollte. Schon bei meinem ersten Fototermin im San Siro dachte ich: Hier gehe ich nie mehr runter.
Inter soll Sie lange beobachtet haben. Hatten Sie das mitbekommen?
Sie hatten mir bereits vor der EM 1980 ein Angebot gemacht, aber ich hätte niemals geahnt, was für einen Aufwand sie betrieben. Als ich 1982 unterschrieb, präsentierten die mir zwei dicke Hansi-Ordner, die wussten alles über mich.
Nicht, dass Ihr Knie anfällig war.
Vielleicht hätte ich schon 1980 wechseln sollen, damals war ich gut in Form und gesund. Trotzdem erinnere ich mich gerne an Italien. Das Derby vor 90 000, bei dem ich ein Tor schoss. Oder der Treffer gegen Sampdoria Genua. Ich lief vor lauter Freude an die Seitenlinie, wo mich Walter Zenga in die Luft hob und eine Pirouette mit mir drehte. Ein schönes Bild. Außerdem mochte ich die Menschen, und ich glaube, sie mochten mich auch.