Heute Abend kommt es zur Neuauflage des WM-Endspiels. Thomas Hitzlsperger blickt zurück auf seine Zeit als Fernseh-Experte, Kindheitsträume und seine erste Begegnung mit Lothar Matthäus vor 24 Jahren.
Wenn heute Abend Deutschland gegen Argentinien spielt, muss ich an den Sommer 1990 denken. Ich saß im Wohnzimmer meiner Eltern. Wir schauten zusammen das WM-Finale. Die gesamte Familie saß vor dem Fernsehgerät und fieberte mit der Nationalelf. Die Anspannung war groß. Mein Bruder kommentierte für uns das Spiel, sprang ab und an vom Stuhl und gestikulierte wild. Ich sagte nicht viel, sondern war konzentriert, als würde ich selbst spielen. Vielleicht war ich aber auch nur nervös, denn das wahre Highlight sollte erst noch folgen.
24 Jahre später hielt sich meine Aufregung in Grenzen. Wieder spielte Deutschland gegen Argentinien im WM-Finale, aber meine Fußballerlaufbahn war zu Ende. Einige der WM-Finalisten sind ehemalige Kollegen. Ich saß vor dem Fernseher und verfolgte entspannt das Finale. In dem Moment, als Mario Götze den Ball in die Maschen drosch, sprangen wir alle von den Stühlen auf. Nun ja, fast alle. Ausgerechnet am Finaltag feierte eine argentinische Freundin von mir Geburtstag. Die Sitzaufteilung im Wohnzimmer glich in etwa der im Stadion. Ich saß auf der Haupttribüne, umgeben von Menschen, die sich entweder nicht für Fußball interessierten, oder die ich zum ersten Mal gesehen hatte.
Götze bringt nichts
Die deutsche Kurve war leicht in der Überzahl. Die argentinische bestand aus der Gastgeberin und einigen argentinischen Freunden. Ein paar WM-Fans setzten sich zu mir und stellten Fragen, wie sie mir in letzter Zeit oft gestellt werden: „Ist man bei so einem Spiel nervös?“ „Warum singen die nicht die Nationalhymne?“, oder „Bist Du enttäuscht, dass Du nicht dabei bist?“. Es war das WM-Finale, ich beantwortete Fragen und schaute gleichzeitig auf den Fernseher.
Während der Weltmeisterschaft war ich für das ZDF-Morgenmagazin als Experte tätig. Ich war es gewohnt, Fragen der Fans zu beantworten und tat dies geduldig bis zum Abpfiff des Finales. Ich musste aber nicht nur Fanfragen beantworten, sondern auch Vorhersagen treffen. Die Aufstellung der deutschen Mannschaft konnte ich anfangs treffsicher vorhersagen. Im Viertelfinale wollte ich Götze ins Mittelfeld stellen. Die Fernsehzuschauer waren damit nicht einverstanden: Götze bringe nichts, schlechte Saison bei Bayern München, der helfe der Mannschaft nicht weiter. Lieber Klose, so die Meinung vieler Fans. Löw sah es genauso und lies den Bayern auf der Bank.
Um die Spiele in Ruhe sehen zu können, saß ich meistens auf meinem Hotelzimmer und studierte die Begegnungen, als müsste ich Jogi Löw ein Dossier über den nächsten Gegner präsentieren. Public Viewing war meine Sache nicht. Auffallend war die Intensität der Partien. Obwohl im Vorfeld häufig die Rede von den extremen klimatischen Bedingungen war, rannten die Spieler von der ersten bis zur letzten Minute. Es fielen mehr Tore als je zuvor bei einer WM. Taktieren war nicht angesagt, es wurde attackiert.
Ohne Public Viewing ging für mich die WM dennoch nicht zu Ende. Als die Nationalelf den Fans in Berlin den WM-Pokal präsentierte, stand ich unweit der Bühne, mit dem Mikrofon in der Hand, und kommentierte die Party für das ZDF. Aus der Party wurde „Gaucho-Gate“. Die Argentinier haben die Jubelfeier der deutschen Mannschaft teilweise kritisiert. Ob sie sich heute noch daran erinnern werden? Ich denke nicht.
Erinnerungen Portugal – Deutschland
Heute Abend wird das also vermutlich keine Rolle mehr spielen. An einer Revanche sind die Argentinier wenig interessiert. Im Vordergrund werden die Ereignisse abseits des Platzes stehen. Die Verabschiedung der zurückgetreten Nationalspieler Lahm, Mertesacker und Klose. Wie üblich, spielen sich rund um ein derartiges Länderspiel viele Dinge ab, die die Zuschauer nicht mitbekommen, die aber das Leben einzelner einschneidend verändern können. Wie bei mir vor 24 Jahren. Vielleicht wird auch diesmal ein Nachwuchsspieler neben dem Rasen stehen, der von der großen Karriere träumt, wie ich es damals getan habe. Ich denke an die Partie Portugal gegen Deutschland im August 1990.
Als Gewinner eines Talentwettbewerbs durfte ich mit der Weltmeister-Elf nach Lissabon zum ersten Länderspiel unter Berti Vogts reisen. Ich war beim Training dabei und sammelte die Bälle von Klinsmann und Co. ein. Ich durfte sogar mit der Mannschaft im Teamhotel Mittag essen. Ich wollte unbedingt ein Foto mit Lothar Matthäus. Wenn ich mir heute das Bild anschaue, ärgere ich mich immer noch über den Fotografen. Während Lothar in die Kamera grinste, schaute ich auf den Boden. Er hat´s verbockt. Ich werde die Reise dennoch nie vergessen. Das erste Testländerspiel nach dem Titelgewinn war für mich bedeutender als die gesamte WM. Wer das heute Abend wohl von sich behaupten kann?