Diskriminierungen sind im englischen Fußball trauriger Alltag. Wer sich dagegen wehrt, muss mit Übergriffen rechnen. Ein Besuch bei Fans von Clapton FC und Charlton Athletic.
Forest Gate Station, London. Hier steigt nur aus, wer hier lebt oder arbeitet. In der Luft liegt der Geruch von altem Frittierfett, billige Imbissbuden reihen sich neben Wettshops und Ramschläden, viele Geschäfte stehen leer. Hier ist das echte East London, der Teil der Stadt, der in keinem Reiseführer erwähnt wird. Wer eine Fotokamera aus dem Rucksack holt, wird von den Herumstehenden schräg beäugt: Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen!
Tommaso verspätet sich. Nur ein paar Minuten, „der Feierabendverkehr, du kennst das“. Sein Händedruck ist fest, aber flüchtig. Er spricht Englisch mit italienischem Akzent, ein Haarband hält die schwarz-grauen Locken zusammen. Er trägt Vollbart und eine Brille mit breitem Rahmen, dazu schwarzes Poloshirt, graue Skinny-Jeans und Adidas-Sneaker, die ihre besten Tage hinter sich haben. „Wir gehen hier rein“, sagt er und öffnet die Tür eines Pubs. „Hier treffen wir uns meistens vor den Heimspielen.“ Tommaso eilt mit einem Pint vorbei an der Bar in den Hinterhof. Unter einem zum Regenschutz umfunktionierten Sonnenschirm sitzen vier Männer, ein paar weitere stehen herum und unterhalten sich, viele tragen Schals in den Farben Schwarz und Rot.
600 Zuschauer bei einem Neuntligaspiel
Sie alle sind Mitglieder der „Scaffold Brigada“, der Ultragruppe des in Forest Gate ansässigen Fußballvereins Clapton FC. Der Klub dümpelt im Morast des englischen Ligensystems: Essex Senior League, Liga neun. Bei den meisten anderen Vereinen in der Liga verirren sich selten mehr als zwanzig, dreißig Zuschauer zu den Spielen. Beim Clapton FC sind es regelmäßig mehrere hundert, aktueller Rekord sind 600, aufgestellt vor wenigen Wochen.
Angefangen hat der kleine Hype im Jahr 2012, seitdem kommen immer mehr. Nur warum?
Die Männer unter dem Sonnenschirm trinken Bier, reden über dies und jenes, vor allem über Fußball, am letzten Wochenende hat die Premier League wieder angefangen. Tommaso setzt sich neben Steve, Mitte 30, kurz rasierte Haare, Camouflage-Parka. Sein rechtes Auge ist geschwollen, eine Kruste unter der Braue zeugt von einer erst kürzlich verheilten Platzwunde. Er senkt die Stimme, als er erzählt, wie er dazu gekommen ist.
Zum letzten Testspiel vor der Saison, am 4. August 2015 in Thamesmead, reiste die „Scaffold Brigada“ mit etwa 50 Personen an. Im Vorfeld der Partie hatte es in sozialen Medien Provokationen gegeben – Hooligans vom rechten Rand drohten den Ultras des Clapton FC mit Prügel, sollten sie erscheinen. Der Einschüchterungsversuch wurde dem Gastgeberverein gemeldet. Trotzdem kam es, als die „Scaffold Brigada“ mit 15 Minuten Verspaätung den Platz erreichte, zu einem Angriff von etwa 50 Schlägern.
Angriff mit Flaschen, Gläsern und Steinen
In einer Stellungnahme schreiben die Ultras, die Angreifer seien „Faschisten“ gewesen, „keine Fans von Thamesmead“, denn es gebe keine Rivalität zwischen den Anhängern beider Vereine. Die zum Teil bewaffneten Hooligans schlugen auf die Ultras ein, warfen Flaschen, Gläser und Steine, beschossen sie mit Feuerwerksraketen. Auf dem Parkplatz geparkte Autos wurden beschädigt, Verletzungen gab es – mit Ausnahme einiger Platzwunden – zum Glück keine.
Steve und die anderen sind erschrocken über das, was in Thamesmead passiert ist: „So etwas ist uns in der Form vorher noch nie passiert. Die wollen erreichen, dass wir in der Öffentlichkeit als Hooligangruppe wahrgenommen werden. Aber das sind wir nicht.“
Über den Grund für den Angriff in Thamesmead muss man nicht lange spekulieren: Die „Scaffold Brigada“ positioniert sich offensiv gegen Rassismus, Homophobie und Sexismus – auf Bannern, Aufnähern und Stickern der Gruppe prangt häufig das Logo der „East London Antifa“. Ihre Mitglieder sammeln Geld und Nahrungsmittel für soziale Projekte im Viertel, aktuell vor allem für mittellose Flüchtlinge.
Auch deswegen gehen immer mehr Fans zu den Spielen des Clapton FC: Die Mitglieder der „Scaffold Brigada“ wollen Zeichen setzen. Einerseits gegen die zu teuren Eintrittskarten für Spiele im englischen Profifußball – viele waren oder sind immer noch Fans großer Vereine, können oder wollen aber nicht 60 Pfund oder mehr ausgeben, um Zugang zu einer modernen Arena zu haben, in der Ordner einen zur Vernunft ermahnen, wenn man es wagt, Emotionen zu zeigen. Steve ist zum Beispiel Fan des nur wenige Kilometer von Forest Gate entfernten Vereins West Ham United; ins Stadion geht er höchstes einmal im Jahr.
Die Premier League präsentiert sich sauber poliert
Andererseits wollen sich die Ultras gegen Diskriminierung in all ihren Spielarten positionieren. Denn auch in englischen Fußballstadien halten sich hartnäckig verkrustete Denkweisen – trotz aller Versuche der Football Association, zumindest die oberen Vorzeigeligen nach außen hin sauber poliert zu präsentieren.
Tommaso, Steve und die anderen leeren mit großen Schlücken ihre Gläser. Eine halbe Stunde bis zum Anstoß. Zeit, zum Stadion zu gehen. Vom Pub aus sind es etwa 15 Minuten Fußweg bis zum Old Spotted Dog Ground, vorbei an den Imbissen und Ramschläden – hier trägt der Clapton FC seit 1888 seine Heimspiele aus. Heute Abend ist Eton Manor zum ersten Heimspiel der neuen Saison zu Gast.
Sechs Pfund statt 60 Pfund
Vor dem Kassenhäuschen warten etwa 15 Menschen. Der Eintritt kostet sechs Pfund, der Kassierer kennt viele Gäste persönlich. Während die letzten Besucher ihren Eintritt bezahlen, fängt sich der Schall der ersten Gesänge der „Scaffold Brigada“ in den Mauern der umstehenden Häuser.
Das Niveau des Spiels ist nicht hoch, die Gangart ruppig, aber nicht unfair – neunte Liga eben, „erwarte nicht zu viel“. Hinter den Trainerbänken haben die Ultras aus Gerüststangen und Wellblech eine überdachte Stehplatztribüne gebaut, etwa so groß wie drei Garagen. Die Bausubstanz war gleichzeitig Inspiration für den Namen der Gruppe – „Scaffold“ bedeutet auf Deutsch Gerüst. Darauf und daneben stehen die Fans, heute sind etwa 300 gekommen, singen und trinken Bier. An der gegenüberliegenden Seitenauslinie steht eine kleinere Sitzplatztribüne für Gäste. Zur Melodie von Desmond Dekkers „The Israelites“ singt die „Scaffold Brigada“ „The Claptonites“. An dem hüfthohen Zaun, der sie vom Spielfeld trennt, haben sie Banner angebracht, die an vergleichbare Exemplare auf St. Pauli erinnern: „Forza Clapton!“
Drei Tage vorher, zehn Kilometer weiter südlich. In einem kleinen thailändischen Restaurant wenige Gehminuten entfernt von The Valley, dem Stadion des Zweitligisten Charlton Athletic, sitzt Rob Harris, 35 Jahre alt. Seine Koteletten reichen bis knapp oberhalb des Unterkiefers, die Frisur deutet einen lockeren Seitenscheitel an. Er spricht mit sanfter Stimme. Heute Nachmittag wird sein Verein gegen den Premier-League-Absteiger Queens Park Rangers FC in die neue Saison starten. Den Treffpunkt hat er ausgesucht – in einer E‑Mail im Vorfeld des Gesprächs schrieb er: „Da wir über ein recht sensibles Thema sprechen wollen, würde ich einen ruhigeren Ort als den Pub vorschlagen.“
Seit dem Ende der letzten Saison ist Rob damit beschäftigt, Charltons ersten Fanklub für Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transidentitäten auf die Beine zu stellen. Bisher haben sich knapp mehr als 40 Mitglieder angeschlossen – es sollen noch einige mehr werden. „Jeder sollte das Recht haben, zum Fußball zu gehen und sich dabei sicher zu fühlen“, sagt Rob: „Egal, welche deine Religion ist, deine Hautfarbe oder deine sexuelle Orientierung.“
Man wollte homosexuelle Fans an einen Ort locken
Konkret veranlasste ihn ein Ereignis am Ende der vergangenen Saison zum Handeln. Unter dem Namen „Charlton Rainbows“ wurde von Unbekannten eine Gruppe ins Leben gerufen, die angeblich dazu gedacht war, Charltons LGBT-Fans („LGBT“ steht für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender) unter einem Namen zu versammeln. Über Twitter wurde eine Auswärtsfahrt nach Brighton organisiert, die Gruppe sollte gemeinsam in einem Reisebus fahren. „Aber als ein Tweet auftauchte, in dem stand, dass die Gruppe mit einem regenbogenfarbenen Reisebus anreisen würde, wurden einige misstrauisch“, sagt Rob. Jemand bat die Anti-Diskriminierungs-Organisation „Kick It Out“, der Sache auf den Grund zu gehen. Diese fand heraus, dass die Auswärtsfahrt nach Brighton ein Trick war. Man wollte homosexuelle Fans an einen Ort locken, um diese dort zu überfallen. Die Polizei verhinderte, dass es dazu kommen konnte. „Um so etwas in Zukunft ausschließen zu können, brauchen wir einen LGBT-Fanklub, der offiziell dem Verein angehört“, sagt Rob.
Während der Sommerpause wurden die „Proud Valiants“ schließlich auf der offiziellen Vereinswebseite mit einem Artikel vorgestellt. Infolgedessen schrieben viele Fans an die im Artikel angegebenen Kontakte, via Facebook, Twitter oder E‑Mail. Rob schätzt, dass 95 Prozent dieser Nachrichten positiven Charakters waren – aber dann waren da eben noch die restlichen fünf Prozent. Ein Dauerkarteninhaber wurde wegen eines gehässigen Tweets sogar aus dem Verein verbannt. „Da war dieser eine Fan“, erinnert sich Rob, „der wegen seiner Religionsauslegung ein Problem mit Homosexualität hat. Ich würde niemals die Religion von irgendjemandem in Frage stellen. Aber dieser Typ hat angefangen, mit einem Fan zu streiten, der sich gegen seine eigene Meinung positioniert hatte – und das ist dann hässlich geworden. Sein Rauswurf hatte eher mit seinem Problem zu tun, seine Wut zu kontrollieren.“
Unterschwellige Homophobie
Charlton-Fans, die sich durch homophobe Sprüche und Gesänge in die Enge getrieben fühlen, können sich seit dieser Saison bei den „Proud Valiants“ melden, gemeinsam könne man dann das weitere Vorgehen besprechen. Im Extremfall sollen Fälle auch dem Verein gemeldet werden. Bei all dem ist es Rob aber wichtig zu betonen, dass die „Proud Valiants“ in erster Linie Fans des Charlton Athletic FC sind: „Ein paar Leute waren ernsthaft besorgt, dass wir die Gruppe ins Leben gerufen hätten, um irgendwen zu bekehren. Ganz ehrlich: Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen heterosexuellen Menschen kennengelernt, der zur Homosexualität bekehrt wurde. So etwas zu behaupten, ist einfach sehr, sehr dumm! Und dass diese Leute unsere Loyalität zu Charlton anzweifeln, macht mich sauer.“
Im Stadion zeige sich Homophobie – im Gegensatz zu sozialen Medien – eher unterschwellig, durch die Sprache, die manche Fans benutzen. Rob erklärt: „Im Stadion sagt dir nicht zwangsläufig einer ins Gesicht, dass er ein Problem mit dir hat, obwohl das auch vorkommt. Das zeigt sich eher, wenn sich zum Beispiel ein Spieler wegen eines leichten Fouls fallen lässt, und jemand brüllt ›Steh auf, du Schwuchtel!‹“
Diese Einschätzung bestätigt auch der ehemalige Fußballprofi Anwar Uddin, der sich heute im Namen der Football Supporters‘ Federation gegen Diskriminierung im Fußball engagiert. Während eines Telefonats sagt er: „Fußball ist ein von Männlichkeit dominiertes Spiel. Es geht immer darum, der Stärkere zu sein, der König des Dschungels. Und schwule Männer gelten für viele als schwach.“ Dieses Klischee – schwul gleich weich – macht Uddin auch dafür verantwortlich, dass sich seit Justin Fashanu kein aktiver Profifußballer mehr als schwul geoutet hat.
Uddin sagt: „Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass es in der Premier League schwule Fußballer gibt. Würden sie mich fragen, ich würde ihnen dazu raten, sich zu outen – auch wenn das ein mutiger Schritt wäre. Einige Fans würden sicher negativ reagieren, aber die Mehrheit würde diese Spieler für ihren Mut feiern. Ich würde mir einen öffentlich schwulen Profi wünschen, zu dem andere aufsehen könnten, so wie sie seit Jahren zu Profis mit Migrationshintergrund aufsehen.“
Zum Schluss verweist Anwar Uddin noch auf eine Studie im Auftrag von „Kick It Out“, die das Ausmaß diskriminierender Posts im Zusammenhang mit Premier-League-Fußball in sozialen Medien und Foren zwischen August 2014 und März 2015 offenlegt. Während dieser Zeit wurden mehr als 130.000 diskriminierende Posts veröffentlicht, fast 90 Prozent davon auf Twitter, wobei man annehmen muss, dass dieses Verhältnis durch den hohen Anteil von Facebook-Posts entsteht, die nicht für jedermann sichtbar sind. Allein 8000 Posts richteten sich direkt an Mario Balotelli, mehr als die Hälfte davon waren rassistische Beleidigungen – Balotelli nimmt damit die „Spitzenposition“ in diesem Ranking ein.
41 Anzeigen bei der Polizei – 13 Untersuchungen
Auf den Plätzen zwei und drei liegen die ebenfalls dunkelhäutigen Fußballer Danny Welbeck und Daniel Sturridge, der zu mehr als 60 Prozent wegen seiner angeblichen Homosexualität beleidigt wird. Sturridge selbst hat sich an der Diskussion über seine sexuelle Orientierung bisher nicht öffentlich beteiligt. Aufgeteilt nach der Art der Diskriminierung entfallen laut der Studie 28 Prozent auf Rassismus, 25 Prozent auf das Geschlecht einer Person und 19 Prozent auf die sexuelle Orientierung – den Rest des Spektrums teilen sich Behinderungen, Antisemitismus, Islamophobie und Beleidigungen aufgrund des Alters. 78 Prozent aller registrierten Posts kamen von Männern.
„Kick It Out“ hat damit begonnen, diskriminierende Posts bei der Polizei anzuzeigen. Während der Hinrunde der Saison 2014/2015 wurden 41 Fälle angezeigt, in 13 davon leitete die Polizei Untersuchungen ein.
Clapton gewinnt 3:2
Zurück zum Clapton FC. Mittlerweile ist es dunkel, der Regen flimmert vor den Lampen der Fluchtlicht-Masten. Clapton hat Eton Manor mit 3:2 geschlagen, obwohl die Gäste zur Pause mit 2:0 geführt hatten. Ein Sieg zum Auftakt der Saison. Steve steht mit einer Dose Bier neben der Tribüne im Matsch, er ist sichtlich zufrieden.
Die Mannschaft versammelt sich vor der Stehplatztribüne und feiert zusammen mit den 300 Fans, am Schluss klatschen sie sich mit denen in der ersten Reihe ab, darunter auch Tommaso: die übliche Prozedur. Am Wochenende steht das nächste Heimspiel an, die erste Runde im Pokal. Bei gutem Wetter dürften dann noch deutlich mehr Fans nach Forest Gate kommen als an diesem verregneten Dienstagabend im August.