Am Dienstag bekam Italiens Nationalmannschaft im EM-Trainingslager Besuch von der Polizei. Offenbar sind mehrere Profis in einen ausufernden Wettskandal verwickelt. In Bella Italia scheinen Schlaftabletten, Mafiabeziehungen und Geldübergaben in diesen Tagen selbstverständlich.
Alles begann mit einer Schlaftablette im Pausentee von vier Mitspielern. Der Torhüter von Cremonese, Marco Paoloni, wollte im Drittligaspiel gegen Paganese auf Nummer sicher gehen und so die vier Spieler ausschalten, die von Spielmanipulation nichts wissen wollten. Das gelang ihm. Mitspieler Carlo Gervasoni verursachte dadurch auf dem Nachhauseweg einen Autounfall, Kapitän Andrea Zanchetta und der Physiotherapeut mussten wegen Übelkeit ins Krankenhaus eingeliefert werden. Bei der Untersuchung ihres Urins entdeckten die Ärzte Nachweise für ein Schlafmittel.
Die drei erstatten Anzeige, die Staatsanwaltschaft der lombardischen Stadt eröffnete ein Ermittlungsverfahren. Das war am 14. November 2010. Mittlerweile ermitteln die Staatsanwaltschaften von Cremona, Rom, Bari und Neapel – und der Skandal um manipulierte Spiele zieht immer größere Kreise.
Drahtzieher in Singapur
Nicht nur Drittligaspiele wurden manipuliert, sondern auch Zweit- und Erstligaspiele, bei denen frühere Nationalspieler wie Giuseppe Signori oder Christian Vieri, aber auch heutige wie Domenico Criscito und Leonardo Bonucci eine aktive Rolle spielten. Ermittler stießen dann auf einen internationalen Wettmafia-Ring, deren Drahtzieher in Singapur sitzt: Es soll sich um den Wettpaten Tan Seen Eng handeln. Eng erhielt die Infos über die verschobenen Spiele durch ungarische Mittelsleute. Bei einzelnen Spielen verdienten die italienischen Profis bis zu zwei Millionen Euro. Nach dem diesjährigen Saisonende rückten Hundertschaften von Polizei und Justiz an, um endlich reinen Tisch zu machen. Das Ergebnis: 19 Personen Verhaftungen und 30 Hausdurchsuchungen. Im Zentrum der Spielabsprachen sollen Klubs wie Cremonese Calcio, Siena, Lazio Rom, Lecce, der SSC Neapel, FC Genua, Chievo Verona oder Udinese Calcio stehen. Die Drahtzieher der Spielmanipulationen, so die italienischen Gazetten, seien neben Tan Seen Eng die so genannte „Zigeuner-Bande“ um Almir Ilievski und Hristyan Gigic sowie eine Ungarn-Gang. Der ermittelnde Staatsanwalt Roberto di Martino ist allerdings nicht als harter Hund bekannt. Im Gegenteil: Er plädiert just in diesen Tagen für eine allgemeine Amnestie – zumindest in der Sportgerichtsbarkeit. Denn das Ausmaß der Manipulationen sei so umfangreich, dass es den ganzen Spielbetrieb des italienischen Profifußballs in Frage stellte.
Wenige Tage vor der Europameisterschaft steckt Italiens Fußball in der wohl tiefsten Krise. „Das ist schlimmer als 2006“, sagte Nationalspieler Daniele de Rossi. Und das wirke sich chaotisch auf den Zustand in und um die Squadra Azzurra aus, urteilte der „Corriere dello Sport“. Abwehrspieler Domenico Criscito gehörte offenbar zu den einflussreichen Zampanos, er steht im Verdacht der Schiebung. Der Verband strich Criscito, der jetzt für Zenit St. Petersburg spielt, deshalb aus dem EM-Kader. Er ist als Hitzkopf und als risikofreudiger Glücksspieler bekannt. Criscito kommt aus Neapel und zog schon als Jugendspieler aus, um sein Talent beim FC Genua und bei Juventus Turin unter Beweis zu stellen. Des Geldes wegen akzeptierte er die Offerte von Zenit St. Petersburg und wechselte nach Russland. Criscito und der Stürmer Giuseppe Sculli, dessen Großvater als einer der führenden Köpfe der Mafia-Organisation ‚Ndrangheta gilt, sollen beim FC Genua den Kontakt zu den oben genannten Banden hergestellt haben. Sie waren offenbar die Emissäre der Mannschaft und übermittelten, wie die Spiele ausgehen sollten. Fotos der Polizei zeigen sie bei der Geldübergabe. Sculli war zudem für die Verteilung des Wetterlöses zuständig.
„Ich spreche nicht über das Nichts“
Obwohl auch gegen Verteidiger Leonardo Bonucci wegen des Verdachts von Spielmanipulationen ermittelt wird, berief Nationaltrainer Cesare Prandelli den Spieler von Juventus Turin in sein EM-Aufgebot. Es liege gegen ihn nichts vor, so Prandelli. Bonucci spielte damals für Bari und soll mitgewirkt haben, das Ligaspiel Udinese-Bari, das 3:3 endete, zu manipulieren.
Die Liste der anderen Beschuldigten ist illuster. Trainer Antonio Conte, jetzt Juventus Turin, soll von den Manipulationen gewusst haben, als er Trainer von Siena war. Am Montag wurde seine Wohnung durchsucht. Er selbst verweigert jeglichen Kommentar. „Ich spreche nicht über das Nichts“, sagte er. Doch gegen Conte wird inzwischen nicht nur wegen Wettbetrugs, sondern auch wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Ein weiterer Drahtzieher sei Lazio-Rom-Kapitän Stefano Mauri, der seit Montag in U‑Haft sitzt.
Torwart Gianluigi Buffon, selbst ein unverbesserlicher Zocker, ließ sich entlocken, dass es durchaus vorkäme, dass sich die Spieler mal ausrechneten, welches Spielergebnis wohl besser sei. Aber von systematischen Spielmanipulationen könne keine Rede sein. Kurz vor der WM 2006 musste sich Buffon selbst vor der Turiner Staatsanwaltschaft erklären, warum auch er auf Spiele von Juventus Turin große Summen gesetzt habe. Angesichts der Aussagen einiger Verantwortlicher platzte Ministerpräsident Mario Monti der Kragen. „Man muss darüber nachdenken und abwägen, ob es nicht besser wäre, den Spielerbetrieb für zwei bis drei Jahre ganz auszusetzen“, sagte Monti. Und er, der EU-Kommissar für den freien Wettbewerb gewesen sei, sehe es partout nicht ein, warum öffentliche Gelder dafür verwendet würden, die Schulden der Klubs zu begleichen.
Trapattoni besorgt
Der Präsident des italienischen Fußballverbands (FIGC), Giancarlo Abete, sagte zum Vorschlag des Regierungschefs: „Ich verstehe und teile seine Verbitterung, aber ein Stopp würde den gesamten Fußball demütigen, die Mehrheit der ehrlich Arbeitenden bestrafen und tausende Jobs kosten.“ Dies könne keine Lösung sein. Harsch reagierte Palermos Klub-Präsident Maurizio Zamparini und bezeichnete Montis Äußerung gar als „Blödsinn“ und schimpfte: „Monti beweist damit sein Unwissen. Schließlich zahlten die Profi-Fußballclubs 800 Millionen Euro Steuern pro Jahr.“
Ob sich alles wie gewohnt am Ende in Luft auflöst, so bald die neue Saison anläuft? Alttrainerstar Giovanni Trapattoni, der jetzt mit Irland Italiens Gruppengegner trainiert, entrüstete sich verbal über das Ausmaß des Skandals. Es sei nicht gut, dass „solch schlechte Sachen“ im italienischen Fußball vorkämen, bemerkte er. Trapattoni vergaß zu erwähnen, dass auch er von dem früheren Milan-Spieler Carlo Petrini in einem Buch bezichtigt wurde, in den Siebzigern an Spielmanipulationen beteiligt gewesen zu sein.