Der junge Abdu wollte Fußballprofi werden in einem Land, in dem Sportler hingerichtet werden. Als somalische Terroristen seinen Vater entführen und seinen Bruder ermorden, flieht er nach Europa.
Als der Junge sich endgültig auf und davon macht, ist er schon über zwei Monate unterwegs. Er hatte sich Ende 2010 mit einer somalischen Jugendnationalmannschaft in Katar auf ein Turnier in Ägypten vorbereitet, und nun steht er, Abdu Wahaab Mahamoud Ali, 14 Jahre jung, irgendwo in Kairo in einer Telefonzelle und zittert am ganzen Körper.
„Mama?“
„Bitte komm’ nicht heim, Abdu!“
„Mama, was ist passiert?“
„Sie haben deinen Bruder getötet. Sie haben deinen Vater entführt. Sie sagen, dass wir Ungläubige sind. Sie sagen, dass wir Ungläubige sind. Versprich mir, mein lieber Abdu: Komm nicht zurück!“
Abdu legt den Hörer auf und rennt los, hinein in die Stadt, bis er irgendwann wieder bei seiner Mannschaft ankommt. Er erzählt den Mitspielern, was passiert ist. Dann packen sieben Jungs, fast noch Kinder, ihre Sachen in Taschen und Plastiktüten, Trikots, Schuhe, Pullover, das Nötigste eben, und tauchen unter in den Gassen und Hinterhöfen von Kairo.
Erst später erfährt Abdu, wie die Terroristen vorgegangen waren. Sie drangen mit Gewehren in ihre Wohnung in Mogadischu ein, und ohne Vorwarnung erschossen sie seinen Zwillingsbruder, von dem sie annahmen, er sei Abdu. Sie hatten ihn, Abdu, einmal gewarnt, sie hatten ihm gesagt, dass Fußball Sünde sei. Und gleichzeitig hatten sie versucht, ihn als Kämpfer für die islamistische Terrorgruppe Al-Shabaab zu gewinnen. Aber der Junge wollte das nicht, er wollte Fußball spielen.
Erzählung aus einem Endzeitfilm
Vier Jahre später, an einem Tag im April 2015, sitzt Abdu in einem Café im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel. Neben ihm seine Betreuerin und der Trainer seiner neuen Fußballmannschaft. Abdu hat ein Foto aus seiner Zeit als somalischer Jugendnationalspieler dabei. Er trägt T‑Shirt, Turnschuhe und eine graue Jeans. Ein normaler 18-Jähriger, der sich neulich „Fack ju Göhte“ im Kino angeschaut hat, Cristiano Ronaldo toll findet und die zehnte Klasse einer Stadtteilschule besucht. Der abends Deutsch-Nachhilfe bekommt oder mit der A‑Jugend des Eimsbütteler TV trainiert. Wenn Abdu von seiner Kindheit in Somalia spricht, klingt das hier – Sonne, Apfelschorle, Kuchen – wie das Drehbuch eines Endzeitfilms, als erzähle jemand von einer Welt, in der es immerzu Asche schneit. Irgendwann, irgendwo in Afrika.
Dabei ist Abdu ganz klar bei jeder Geste, jedem Satz. Vielleicht weil er schnell erwachsen werden musste in einem Land, das die UNO als gescheiterten Staat bezeichnet und das nach wie vor als Synonym für Terrorismus und Piraterie gilt. Abdu weint nicht, wenn er von den Schüssen und Bomben erzählt. Abdu sagt nur: „Die sind alle verrückt da!“
Als er neun Jahre alt ist, sieht er das erste Mal ein Fußballspiel im Fernsehen. Cristiano Ronaldo kickt da noch bei Manchester United, und Abdu denkt, so will er auch mal werden: kräftig und elegant, mit diesem unbedingten Willen, sein Ziel zu erreichen.
„Du kannst Nationalspieler werden“
Er lebt damals mit seinen Eltern und den vier Geschwistern in Warta Nabada, einem Stadtteil in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Das Haus ist nicht groß, ein Zimmer und eine Küche, aber Abdu mag es, denn es liegt am Strand. Der Vater arbeitet auf dem Bau, die Mutter kümmert sich um die Kinder. Und Abdu spielt Fußball, jeden Tag, von morgens bis abends auf Asphalt und Sand. An manchen Tagen kann er hören, wie in der Nachbarschaft Bomben detonieren, an anderen Tagen kommen Trainer der Jugendnationalteams vorbei und schauen nach neuen Talenten. Einmal spielt er besonders gut, und da nimmt ihn einer mit. „Du kannst Nationalspieler werden“, sagt der Trainer.
Mogadischu ist damals zu weiten Teilen in der Hand von radikal-islamistischen Terrorgruppen, die die Straßen der Stadt nach Kindern und Jugendlichen durchkämmen, um sie für ihre Sache zu gewinnen. Kinobesuche, nicht-religiöse Musik oder Fußball sind verboten. Der Fußball, sagen die Führer von Gruppen wie Hizbul Islam oder Al-Shabaab, sei Geld- und Zeitverschwendung und halte vom heiligen Krieg ab. Er müsse rigoros bestraft werden. Dass die Terroristen die Warnungen ernst meinen, wird sich in den folgenden Jahren oft bestätigen.
„Sie zerstörten alles. Kinos oder Bars, in denen Fußball gezeigt wurde. Alles kaputt. Fußball war haram, die größte Sünde. Viele der Kämpfer waren Jugendliche, Kinder. Es konnten ehemalige Freunde sein, Jungs, mit denen ich früher gespielt hatte. Jeder konnte Al-Shabaab sein. Al-Shabaab heißt ja auch: Die Jungen. Der Alltag war voller Angst, und auch wenn man sich daran gewöhnte, hat meine Mutter jedes Mal große Sorge gehabt, dass ich vom Fußballspielen nicht heimkomme.“
Schon während der WM in Deutschland nehmen Terrormilizen Fußballfans fest, weil sie Spiele im Fernsehen verfolgt haben. Der „Spiegel“ berichtet Ende 2006 von zwei Somaliern, die ermordet wurden, weil sie sich die Partie Liverpool gegen Chelsea angeschaut hatten.
Vor der WM in Südafrika häufen sich Berichte über die Al-Shabaab und Somalia. Man erfährt, dass das Land das einzige ist, das der WM-Pokal auf seiner Reise nach Kapstadt nicht durchquert – es ist schlichtweg zu gefährlich. Einige Medien berichten auch von Fußballfans, die festgenommen werden. Während der Gruppenphase erschießen Terroristen sogar zwei Männer in ihrer eigenen Wohnung. Sie haben heimlich die Partie zwischen Nigeria und Argentinien geschaut.
Der schlimmste Vorfall geht im Jubel des WM-Finals aber beinahe unter: Am 11. Juli 2010 verüben Al-Shabaab-Terroristen zwei Bombenanschläge in der ugandischen Hauptstadt Kampala. Es sterben über 70 Menschen, die sich in Cafés versammelt hatten, um das WM-Endspiel zwischen Spanien und Holland zu schauen. Al-Shabaab erklärt später, es sei ein Vergeltungsschlag gewesen, da ugandische Sicherheitskräfte die somalischen Regierungstruppen unterstützten.
Das größte Fußballtalent wird von einer Autobombe getötet
Und so geht es weiter. Im März 2011 wird ein somalischer Journalist ermordet, weil er über ein Fußballspiel berichtet hat. Im selben Jahr stirbt auch Abdi Salaan Mohamed Ali, eines der größten Fußballtalente Somalias. Er wird von einer Autobombe getötet.
Fußball in Somalia ist nach dem Fall der Regierung und Beginn des Bürgerkrieges eine Sache, die nur in Hinterzimmern stattfindet oder in Gebieten, in denen die Terroristen noch keine Vormachtstellung eingenommen haben. Es gibt zwar selbst nach Gründung der Al-Shabaab im Jahr 2006 eine Nationalmannschaft, aber sie trainiert nur unter Polizeischutz und trägt die Spiele ausschließlich auswärts aus. Auch an eine reguläre Liga ist nicht zu denken, denn das Mogadischu-Stadion wird als Trainings- und Rekrutierungszentrum für Al-Shabaab-Kämpfer genutzt.
Warta Nabada, Abdus Viertel, ist Mitte der Nullerjahre noch nicht in der Hand der Al-Shabaab, trotzdem sind Tod und Gewalt allgegenwärtig. Einmal hört Abdu eine Bombe in einem Park explodieren. Er geht hinüber, und wo eben noch Kinder spielten, liegen nun Leichen. 30, vielleicht 40 Tote, etliche Verletzte.
„Das nächste Mal wanderst du ins Gefängnis“
Eines Tages, nach einer Reise mit einer Jugendmannschaft zu einem Freundschaftsspiel in Kenia, wird Abdu von Al-Shabaab-Milizen abgefangen: „Dieses Mal ist es noch okay“, sagen sie. „Das nächste Mal wanderst du aber ins Gefängnis. Wir wollen hier keinen Fußball! Fußball ist was für Ungläubige!“
Ende 2010 irrt Abdu durch Kairo. Jemand musste ihn verraten haben. Jemand musste erzählt haben, dass er Teil der Jugendnationalmannschaft war. Aber was nützt es nun, sich darüber den Kopf zu zerbrechen? Abdu muss weiter.
In den Straßen Kairos trifft er auf einen älteren Somalier, der ein Restaurant betreibt und ihm einen Aushilfsjob anbietet. Die Küche wird sein Zuhause, hier wäscht er Teller, hier schläft er, manchmal streunt er durch die Straßen. Nach acht Monaten sagt der Mann: „Abdu, ich habe nichts mehr für dich zu tun.“
„Spaghetti. Ein großer Teller!“
Über einen Kontakt, den er von seiner Mutter am Telefon hat, lernt er ein Mädchen kennen, die ihm von Italien erzählt. Er hat ein wenig Geld gespart, doch für die Überfahrt reicht es nicht. Das Mädchen aber überredet die Schlepper und den Kapitän, den durchtrainierten Fußballer mitzunehmen. So einen könnten sie auf dem Boot gut gebrauchen.
Die Flüchtlinge bleiben zwei Wochen auf hoher See, nach sieben Tagen geht das Essen aus. Abdu ernährt sich von Brotresten und trinkt Wasser. Als er am Hafen von Bari ankommt, fragen ihn Polizisten, wer er ist, wo er und die anderen Flüchtlinge herkämen. Abdu kann kaum sprechen, so kraftlos ist er.
„Und dann gab es Spaghetti. Eine große Portion. Es war das erste Mal, dass ich so was gegessen habe. Das war toll! Und weißt du, es war gut, ein Land zu sehen, in dem es keine Gewalt gab und nicht überall Männer mit Maschinengewehren rumrennen.“
Doch die Zuversicht bleibt nicht lange. Im Flüchtlingscamp herrscht Platzmangel, und es gibt nur eine Regel: Die Älteren nehmen sich, was die Jüngeren bringen. Mehrmals wird Abdu bestohlen. Er sucht nach Verbündeten. Nach etwa einer Woche lernt er in einem Park einen anderen Somalier kennen, der schon länger in Bari lebt. Auch der rät ihm, nach Schweden weiterzuziehen, dort gebe es viele Somalier. Gemeinsam fälschen sie seinen Pass, dann bringt ihn der neue Freund zum Flughafen. Wenige Stunden später landet Abdu in Linköping.
Kaum noch Geld und keine Papiere mehr
Doch auch hier findet er keinen Platz, die Behörden wollen ihn nach Italien zurückschicken, weil er dort von Bord gegangen ist und Asyl beantragt hat. Die anderen Flüchtlinge sprechen von Deutschland, dort sei alles besser, Abdu packt seine Plastiktüte, rennt zum Bahnhof und setzt sich in den Zug. Er hat kaum noch Geld und keine Papiere mehr.
„Mein Ticket galt bis Frankfurt, aber als ich in Hamburg umsteigen wollte, sah ich das Schild ›Polizei‹. Ich dachte, die müssen mir helfen, ich bin ja kein Krimineller. Also bin ich hineingegangen. Ich sagte: ›Hallo, mein Name ist Abdu Wahaab Mahamoud Ali, und ich bin Flüchtling aus Somalia!‹“
Seit Februar 2013 lebt Abdu in Hamburg. Er hat eine Aufenthaltsgenehmigung, die er in regelmäßigen Abständen verlängern muss. Manchmal träumt er noch vom Profifußball. Wenige Tage nach seiner Ankunft machte er sogar ein Probetraining beim Hamburger SV, wo man ihn für talentiert hielt, aber seine Physis bemängelte. Danach spielte er für kleinere lokale Vereine wie den VfL Hammonia und Blau-Weiß Schenefeld. Am Hauptbahnhof lernte er mal einen anderen Flüchtling kennen, der ihm den Eimsbüttler TV empfahl. Ein Oberligaverein, der in der Vergangenheit immerhin den ehemaligen Nationalspieler wie Hans Rohde oder den Bundesligaspieler Jens Scharping hervorgebracht hat.
Fifa-Entwicklungskurse in Somalia
Die Situation in Somalia sei viel besser heute, findet Abdu. Tatsächlich gibt es so was wie eine nationale Liga, an der zehn Mannschaften aus Mogadischu teilnehmen. Der somalische Verband rief die Kampagne „Put down the gun, pick up the ball“ ins Leben, um den Jugendlichen eine Alternative zur Al-Shabaab aufzuzeigen. 2013 entsandte die Fifa erstmals nach 27 Jahren wieder Vertreter nach Mogadischu und führte einen Entwicklungskurs durch.
Aber besser? Ist es das wirklich?
Im Oktober 2014 kamen bei einem Autobombenanschlag in der Nähe des Parlaments 15 Menschen ums Leben. Im Dezember 2014 tötete ein Selbstmordattentäter vier Personen bei einem Angriff auf einen UN-Konvoi. Zwischen Februar und April 2015 verübten Al-Shabaab-Terroristen drei größere Attentate, bei denen jeweils zehn oder mehr Menschen starben. Und allein im Juli 2015 starben bei mehreren Bombenattentaten in Mogadischu über zwanzig Menschen.
Die Mutter darf nicht nach Deutschland kommen
2013 starben zwei weitere Geschwister von Abdu bei einem Bombenanschlag. Wo der Vater ist, weiß niemand. Nur zu der Mutter hat Abdu regelmäßig Kontakt. Sie ist mit ihrer einzig verbliebenen Tochter mittlerweile nach Kampala in Uganda geflohen.
Nach Hamburg darf sie allerdings nicht kommen, denn Familiennachzug wird in Deutschland nur bis zum Eintritt der Volljährigkeit gewährt. Abdu stellte den Antrag zwar, als er noch 17 war. Die Behörden ließen sich mit der Bearbeitung des Falles aber bis wenige Wochen nach seinem 18. Geburtstag Zeit – und lehnten ihn dann ab.
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Die Geschichte erschien in 11FREUNDE #166 in gekürzter Fasssung. Ihr findet die Ausgabe noch im 11FREUNDE-Shop oder im App-Store.