Heute wird einer der größten polnischen Spieler aller Zeiten 70 Jahre alt – Grzegorz Lato. Ob er Weltmeister wäre, wenn an einem Julitag 1974 die Sonne geschienen hätte?
Vor einigen Jahren saß ein deutscher Journalist an einem lausig kalten Februartag zusammen mit zwei polnischen Kollegen namens Jacek und Marek in einer Kneipe in Warschau. Irgendwann kam die Sprache natürlich auf Fußball, und da hatte der deutsche Gast eine Frage. Kannten die beiden Polen wohl das Interview, das Paul Breitner 2007 der FIFA-Website gegeben hatte und in dem er sich an die Weltmeisterschaften erinnerte, an denen er teilnehmen durfte? Jacek und Marek schüttelten die Köpfe.
„In jenem Interview“, sagte der deutsche Journalist aus, „meint Breitner, dass die beste Elf bei der WM 1974 nicht der Turniersieger Deutschland war. Aber eben auch nicht die Holländer, von denen bis heute alle schwärmen. Breitner sagte: ‚Die Polen hatten eine bessere Mannschaft als wir, als die Holländer oder als die Brasilianer, eben als jede andere Mannschaft. Sie waren 1974 die beste Mannschaft.‘ Sieht man das in Polen auch so?“ Die beiden Angesprochenen blickten sich kurz an, als hätte man sie gerade gefragt, ob Polen katholisch sei. Dann sagte Jacek: „In diesem Land weiß das jedes Kind.“ Und Marek fügte hinzu: „Ohne den Regen hätten wir gewonnen. Es lag nur an dem verdammten Schlamm.“
Damit meinte er natürlich die berühmte „Wasserschlacht von Frankfurt“, die Partie zwischen Polen und der DFB-Auswahl, die im Grunde so etwas wie ein Halbfinale war. Durch ein Tor von Gerd Müller gewannen die Gastgeber 1:0, auf einem Rasen, der nach einem Wolkenbruch praktisch unbespielbar war. Die Vorstellung, dass die Platzverhältnisse vor allem den Polen schadeten, ist nicht neu. Kein Geringerer als Franz Beckenbauer wird mit dem Satz zitiert: „Unter normalen Bedingungen hätten wir wahrscheinlich keine Chance gehabt.“ Doch wenn man sich das Spiel, oder was immer es war, heute noch einmal anschaut, dann fällt vor allem auf, wie enorm gefährlich die Polen trotz des Schlamms waren! Nicht umsonst erinnerte sich Sepp Maier in seiner Autobiografie: „Torchance über Torchance haben sich die Polen herausgespielt. Aber ich hatte einen besonders guten Tag. Flanken, Direktschüsse, Eckstöße, alles habe ich heruntergeholt, gefaustet und gehalten.“
Ein besonderes Problem war der Matsch für den Rechtsaußen der Polen, Grzegorz Lato. Manche Leute glauben ja bis heute, dass Gerd Müller bei der WM 1974 Torschützenkönig geworden wäre – dabei gebührt diese Ehre dem Mann, der schon damals durch eine hohe Stirn auffiel, obwohl er erst 24 war. Lato schoss im Verlauf des Turniers sieben Tore, zwei mehr als sein Landsmann Andrzej Szarmach und der Holländer Johan Neeskens, drei mehr als Müller. Bei den meisten dieser Tore, zum Bespiel beim 1:0‑Siegtreffer gegen Brasilien, rannte Lato seinen Gegnern einfach davon. Er konnte die 100 Meter in unter elf Sekunden laufen – aber natürlich nicht in knöcheltiefem Schlamm.
Tempo hatte der am 8. April 1950 geborene Lato schon immer, trotzdem war lange nicht abzusehen, dass er eines Tages mit Polen um den Einzug in ein WM-Finale spielen würde. Weil sein Vater Flugzeugmechaniker war, zog die Familie Lato oft um, bis sie schließlich in der kleinen Stadt Mielec sesshaft wurde, wo es einen Luftsportverein gab und eine Fabrik, die Flugzeuge und Nutzfahrzeuge baute. Ach ja, einen obskuren Fußballklub gab es auch. Er hieß Stal Mielec, und stieg Mitte der Sechziger in die dritte Liga ab. Da spielte Grzegorz Lato schon in der Jugendabteilung des Vereins, ohne dass er groß auffiel. Die meisten Leute (und er selbst) hielten seinen zwei Jahre älteren Bruder Ryszard für das größere Talent. In der Schule bat man Grzegorz, sich dem Leichtathletikteam anzuschließen. Er antwortete: „Ich bin nur dann schnell, wenn ich einen Ball vor mir habe.“
Lato war also ein typischer Spätentwickler, wie auch Robert Lewandowski, der im Jugendalter ebenfalls nie in eine Auswahlmannschaft berufen wurde. Es ist nicht die einzige Gemeinsamkeit dieser beiden Ikonen des polnischen Fußballs. So wurden sie beide früh zum Halbwaisen. Lato war erst neun, als sein Vater bei der Arbeit auf einer Öllache ausrutschte und sich schwere Kopfverletzungen zuzog. Er starb mit nur 37 Jahren bei der Not-OP. Vermutlich brauchte sein jüngster Sohn lange, um das zu verarbeiten und unbeschwert Fußball spielen zu können. So beendete Grzegorz ganz normal die Schule und nahm dann einen Job in der Fabrik an. Nur fünf Jahre, bevor er Torschützenkönig der WM wurde, baute Lato Übertragungswagen für das polnische Fernsehen zusammen.
Doch nicht lange. Im Sommer 1969 stieg Stal Mielec dank seiner hervorragenden Jugendarbeit in die erste Liga auf, und nun wurden beim Klub quasi-professionelle Bedingungen eingeführt. Lato war zwar offiziell weiter bei der Fabrik angestellt, verbrachte seine Tage aber nur noch auf dem Fußballplatz. Damit begann das Wunder von Mielec – und das große Jahrzehnt des polnischen Fußballs, dem das Schicksal das schenkte, was man im Sport gerne eine Goldene Generation nennt.
Ein halbes Jahrhundert später wurden in einer Warschauer Kneipe Salz- und Pfefferstreuer auf dem Tisch hin- und hergeschoben, damit Marek und Jacek ihrem deutschen Gast erklären konnten, was die polnische Nationalelf der Siebziger so außergewöhnlich machte. Auf den ersten Blick war ihre 4 – 3‑3-Grundordnung der holländischen und westdeutschen sehr ähnlich. Vorne rechts spielte Lato, links Robert Gadocha, zentral stürmte der brandgefährliche Andrzej Szarmach, der allerdings bei der WM überhaupt nur spielte, weil sich Polens bester Angreifer, Wlodzimierz Lubanski, das Kreuzband gerissen hatte. Hinter diesem Trio zog der begnadete Spielmacher Kazimierz Deyna die Fäden.
Doch wo diese vier auftauchten, dass wusste niemand vorher. Offensiv waren die Polen noch variabler als die Holländer mit ihrem „Totalen Fußball“. Der beim DFB angestellte Trainer Karl-Heinz Heddergott schrieb in seiner Analyse der WM 1974: „Die Impulse gingen mal von Deyna, mal von [Henryk] Kasperczak oder von [Zygmunt] Maszczyk aus, aber auch Gadocha oder Szarmach erschienen im Mittelfeld. Es gab nicht den Dirigenten, sondern jeder konnte im Mittelfeld die Führung übernehmen und jeder war bereit, zu laufen und geführt zu werden.“
Unter dem legendären Trainer Kazimierz Górski hatte der Kern dieser Mannschaft schon bei den Olympischen Spielen 1972 in München für Aufsehen gesorgt und überraschend die Goldmedaille gewonnen. Doch in den nur zwei Jahren, die seitdem vergangen waren, war den Polen noch mal ein Schritt nach vorn gelungen, und das lag nicht zuletzt am Provinzverein Stal Mielec. Der wurde 1973 sensationell Meister, mit dem tollen Trio Lato, Kasperczak und Jan Domarski. Nur vier Monate, nachdem sie Stal zum ersten Titel der Klubgeschichte geschossen hatten, waren sie für einen Treffer verantwortlich, der als wichtigstes Tor der polnischen Fußballgeschichte gilt.
Am 17. Oktober 1973 brauchte Polen vor 100.000 Zuschauern im Wembleystadion von London ein Unentschieden gegen England, um sich für die WM zu qualifizieren. Fast eine Stunde lang war es eine einzige Abwehrschlacht, dann spielte Kasperczak einen etwas zu langen Pass auf Lato. Englands Norman Hunter kam vor dem Polen an den Ball, doch Lato spitzelte ihm das Leder weg und war plötzlich am linken Flügel auf und davon. Er zog nach innen und legte quer zu Domarski, dessen Schuss Peter Shilton durch die Hände rutschte. England 0, Stal Mielec 1.
Und so fuhren die Polen nach Westdeutschland, wo sie die Favoriten gleich reihenweise besiegten: Brasilien, Argentinien und – als beiden Teams ein Unentschieden gereicht hätte, um die Vorrunde zu überstehen, – sogar das hoch eingeschätzte Italien. (Es gibt Hinweise drauf, dass die italienischen Spieler, die pro Kopf 30.000 Dollar fürs Weiterkommen erhalten hätten, dem Gegner zehn Prozent ihrer Prämie für ein Remis boten. Offenbar gingen die Polen nicht darauf ein.) Dann kam die Wasserschlacht. „Ich bin sicher, dass wir ohne diese Umstände nicht gewonnen hätten“, sagte Breitner 2007. „Die Polen waren damals eine Mannschaft, die ähnlich perfekt aufgebaut und perfekt strukturiert war wie unsere Nationalmannschaft 1972. Diese perfekte Mischung ergab eine Harmonie, die einen Fußball produzierte, der fantastisch war.“
Nach dem Turnier bekamen viele Polen Angebote aus aller Welt. Der FC Bayern wollte Gadocha, Lato wurde bei der Wahl zu Europas Fußballer des Jahres Sechster und hätte sich einen Verein im Westen aussuchen können. Doch polnische Fußballer durften erst nach ihrem 30. Geburtstag ins Ausland gehen. Das hatte zumindest den Vorteil, dass die Goldene Generation zusammenblieb. Bei Olympia 1976 holten die Polen Silber (Lato traf im Finale gegen die DDR), zwei Jahre später hatten sie in Argentinien zwar bis zum Schluss noch die Chance aufs Finale, doch man merkte schon, dass die große Elf in die Jahre gekommen war.
Im Sommer 1980, wenige Monate nach seinem 30. Geburtstag, wechselte Lato zum belgischen Klub Sporting Lokeren. Er führte den Klub zum größten Erfolg seiner Geschichte, der Vizemeisterschaft, und wurde dafür zum zweiten Mal (und als erster Auslandsprofi) Polens Fußballer des Jahres. Später spielte er noch in Mexiko und Kanada, bevor er in die Heimat zurückkehrte. Die Zeit nach der aktiven Karriere hat Latos Ruf allerdings eher geschadet. Ein Ausflug in die Politik (für die sozialdemokratische SLD) war ebenso wenig erfolgreich wie seine Zeit als Präsident des nationalen Fußballverbandes. Die meisten Polen verbinden jene vier Jahre mit vielen unglücklichen Auftritten – so entließ er Nationaltrainer Leo Beenhakker vor laufender Kamera, während der Holländer sich in Hörweite befand, aber natürlich nicht verstehen konnte, was Lato da auf Polnisch sagte, – sowie der völlig verpatzten Heim-EM 2012.
Doch als Spieler bleibt Lato auf ewig einer der großen Fußballhelden seines Landes. Übrigens ist er bis heute anderer Meinung als Breitner. Jedenfalls zum Teil. Vor einige Jahren sagte er „Przeglad Sportowy“, einer polnischen Sportzeitung: „Was mich angeht, so hatten die Westdeutschen damals keine besonders starke Mannschaft. Es war kein Zufall, dass sie gegen die DDR verloren und in ihrer Gruppe nur Zweiter wurden.“ Doch er fügte hinzu: „Doch selbst wenn wir sie geschlagen hätten, wären wir nicht Weltmeister geworden. Meiner Meinung nach hatten die Niederländer 1974 die beste Elf. Nicht Polen.“