Heute wird einer der größten polnischen Spieler aller Zeiten 70 Jahre alt – Grzegorz Lato. Ob er Weltmeister wäre, wenn an einem Julitag 1974 die Sonne geschienen hätte?
Lato war also ein typischer Spätentwickler, wie auch Robert Lewandowski, der im Jugendalter ebenfalls nie in eine Auswahlmannschaft berufen wurde. Es ist nicht die einzige Gemeinsamkeit dieser beiden Ikonen des polnischen Fußballs. So wurden sie beide früh zum Halbwaisen. Lato war erst neun, als sein Vater bei der Arbeit auf einer Öllache ausrutschte und sich schwere Kopfverletzungen zuzog. Er starb mit nur 37 Jahren bei der Not-OP. Vermutlich brauchte sein jüngster Sohn lange, um das zu verarbeiten und unbeschwert Fußball spielen zu können. So beendete Grzegorz ganz normal die Schule und nahm dann einen Job in der Fabrik an. Nur fünf Jahre, bevor er Torschützenkönig der WM wurde, baute Lato Übertragungswagen für das polnische Fernsehen zusammen.
Doch nicht lange. Im Sommer 1969 stieg Stal Mielec dank seiner hervorragenden Jugendarbeit in die erste Liga auf, und nun wurden beim Klub quasi-professionelle Bedingungen eingeführt. Lato war zwar offiziell weiter bei der Fabrik angestellt, verbrachte seine Tage aber nur noch auf dem Fußballplatz. Damit begann das Wunder von Mielec – und das große Jahrzehnt des polnischen Fußballs, dem das Schicksal das schenkte, was man im Sport gerne eine Goldene Generation nennt.
Ein halbes Jahrhundert später wurden in einer Warschauer Kneipe Salz- und Pfefferstreuer auf dem Tisch hin- und hergeschoben, damit Marek und Jacek ihrem deutschen Gast erklären konnten, was die polnische Nationalelf der Siebziger so außergewöhnlich machte. Auf den ersten Blick war ihre 4 – 3‑3-Grundordnung der holländischen und westdeutschen sehr ähnlich. Vorne rechts spielte Lato, links Robert Gadocha, zentral stürmte der brandgefährliche Andrzej Szarmach, der allerdings bei der WM überhaupt nur spielte, weil sich Polens bester Angreifer, Wlodzimierz Lubanski, das Kreuzband gerissen hatte. Hinter diesem Trio zog der begnadete Spielmacher Kazimierz Deyna die Fäden.
Doch wo diese vier auftauchten, dass wusste niemand vorher. Offensiv waren die Polen noch variabler als die Holländer mit ihrem „Totalen Fußball“. Der beim DFB angestellte Trainer Karl-Heinz Heddergott schrieb in seiner Analyse der WM 1974: „Die Impulse gingen mal von Deyna, mal von [Henryk] Kasperczak oder von [Zygmunt] Maszczyk aus, aber auch Gadocha oder Szarmach erschienen im Mittelfeld. Es gab nicht den Dirigenten, sondern jeder konnte im Mittelfeld die Führung übernehmen und jeder war bereit, zu laufen und geführt zu werden.“
Unter dem legendären Trainer Kazimierz Górski hatte der Kern dieser Mannschaft schon bei den Olympischen Spielen 1972 in München für Aufsehen gesorgt und überraschend die Goldmedaille gewonnen. Doch in den nur zwei Jahren, die seitdem vergangen waren, war den Polen noch mal ein Schritt nach vorn gelungen, und das lag nicht zuletzt am Provinzverein Stal Mielec. Der wurde 1973 sensationell Meister, mit dem tollen Trio Lato, Kasperczak und Jan Domarski. Nur vier Monate, nachdem sie Stal zum ersten Titel der Klubgeschichte geschossen hatten, waren sie für einen Treffer verantwortlich, der als wichtigstes Tor der polnischen Fußballgeschichte gilt.