Die Gebirgsjäger im italienischen Bergamo bauen zurzeit ein provisorisches Krankenhaus. Unterstützung erhalten sie dabei von den Ultras von Atalanta Bergamo – die noch bis vor kurzem als kriminelle Vereinigung galten.
Bei Atalanta Bergamo unterstützen sie derzeit nicht Josip Illicic im Sturm, den Deutschen Robin Gosens oder bejubeln die Tore von Duvan Zapata. Der Fußball in Bergamo ist weit in den Hintergrund gerückt. Support braucht es derzeit an ganz anderen Stellen.
Die Corona-Krise bringt in Italien Menschen zusammen, die sich unter Normalzuständen wohl nie begegnet wären. Weil das Virus im Norden des Landes und explizit in Bergamo nach wie vor wild um sich schlägt, bauen die freiwilligen Helfer der Gebirgsjägertruppe, in Italien Alpinis genannt, ein provisorisches Feldkrankenhaus. So sollen die überlasteten Krankenstationen in der Stadt unterstützt werden. Um das Krankenhaus schnellstmöglich hochzuziehen, baten die Gebirgsjäger auch Atalanta Bergamos Ultras der Curva Nord um Unterstützung. Und die ließen sich nicht nicht lang bitten.
Über die Facebookseite „Sostieni la Curva“ (Unterstütze die Curva) schrieb die Ultragruppierung: „Wir brauchen heute 10, 15 Maler, die mit Rollen, Bürsten, Silikon und Leitern ausgestattet sind.“ Hinterlassen war eine Handynummer, bei der sich freiwillige Unterstützer melden konnten. Nur wenige Minuten später sei das Handy mit Nachrichten überladen gewesen, sodass der Aufruf gestoppt werden musste.
In einem Statement auf der Facebookseite bedankten sich die Ultras am Folgetag bei allen Helfern. Man sei allerdings etwas überrascht gewesen, dass die Alpinis gerade sie um Hilfe gebeten hätten: Warum wir, die Curva Nord? Andere Organisationen würden über viel mehr Mittel verfügen. Die simple Antwort der Gebirgsjäger: „Wir wollten euch, weil ihr ein großes Herz habt.“
Weiter hieß es, man könne stolz sein, dass die Stadt Bergamo der Gruppe solch eine Glaubwürdigkeit schenke. Trotzdem gelte der Dank vor allem den Menschen, die in Krankenhäusern arbeiten, um Leben zu retten. „Bergamo wird diesen Menschen ewig danken.“
Gegenwärtig zeigen Fernsehbilder, wie die Räumlichkeiten des Krankenhauses langsam Gestalt annehmen. Helfer ziehen Wände hoch, verlegen Bodenstücke, transportieren Krankenbetten an. Unter ihnen viele Männer in Shirts der Curva Nord. Laut aktuellen italienischen Medienberichten steht das Feldlazarett kurz vor der Fertigstellung.
Was die Lombarden dieser Tage antreibt, versucht ein Atalanta-Fan in einem emotionalen Schreiben zu erklären, das die Curva Nord am Freitag auf Facebook veröffentlichte. Claudio heißt der Autor, der seine Worte an Atalantas Präsident Antonio Percassi richtet.
Er habe immer gedacht, Atalanta sei alles in seinem Leben, doch dieser Tage werde er eines Besseren belehrt. Er beschreibt, wie „sein Herz weint“, wenn er durch das TV-Programm zappe: Auf dem einen Sender sehe er, wie die Kolonnen der Armee die Leichen abtransportieren, auf dem anderen werde darüber gestritten, wann der Ligabetrieb wieder aufgenommen werde. Die Meisterschaft müsse hier enden, denn an Fußball könne jetzt unmöglich gedacht werden, so sein Appell.
Claudio beendet sein Schreiben mit den Worten: „Ultras nella vita non solo alla partita“ – Ultras im Leben, nicht nur im Spiel.
So wohlgesonnen italienische Medien aktuell über Bergamos Ultras berichten, so kritisch war der Ton noch vor wenigen Wochen. Immer wieder hatte sich die Curva Nord in den vergangenen Jahren mit der Staatsanwaltschaft abgemüht. Diese forderte 2011 lange Haftstrafen gegen die Köpfe der Gruppe, weil sie sich zu einer „kriminellen Vereinigung“ zusammengeschlossen hätten.
Die Solidarität und Hilfsbereitschaft in der Corona-Krise, kommt dieser Tage also von denselben Fans, die jahrelang beschuldigt wurden, mafiöse Strukturen geschaffen zu haben.
Und mitunter pflegen die Ultras von Atalanta tatsächlich eine durchaus martialische Herangehensweise. So zerlegten sie vor einigen Jahren mit einem Panzer zwei Autos in den Farben der verfeindeten AS Roma und Brescia Calcio. Die Aktion widmeten sie ihrem ehemaligen Stürmer German Denis, Spitzname „Il tanque“, der Panzer.
2017 kam es auf einer Europapokal-Auswärtsfahrt in der Innenstadt von Liverpool zu einer Massenschlägerei mit Everton-Fans. Damals gab es mehrere Anzeigen, unter anderem gegen Fans von Eintracht Frankfurt, die eine langjährige Fanfreundschaft zur Curva Nord pflegen.
In ihrer Heimat Bergamo genießt die Curva Nord hingegen einen starken Rückhalt. Sie organisiert regelmäßig Obdachlosenhilfe und Spendensammlungen. Außerdem gibt es jährlich ein Fest, um mit Atalanta-Anhängern außerhalb der Ultra-Szene in Kontakt zu treten.
Und so inflationär der Satz in dieser Zeit fällt, so viel Wahres haftet ihm an: In der Krise zeigt sich der wahre Charakter. Und der scheint in Bergamo nicht allzu verkehrt zu sein.