Der Bundestrainer lässt sich gegen Mexiko überlisten. Nicht nur seine Mannschaft muss wieder den Biss von 2014 entwickeln, sondern auch er selbst.
Nach der Niederlage gab sich Joachim Löw trotzig. Es sind diese Momente, in denen er auf seine bekannten Satzfüller „scho au“ oder „sagnwamal“ verzichtet, er spricht dann klar und lauter als gewohnt: „Es besteht jetzt überhaupt kein Anlass, alles in Frage zu stellen.“ Schnell kursierten Berichte, wonach Löw das Spiel vercoacht habe.
Er stolperte über einen Trick, der so alt wirkt wie der Fußball selbst: Ein Trainer lässt den Spielgestalter des Gegners in Manndeckung nehmen. So bringt er das Spiel der anderen Mannschaft zum Erliegen. Ob nun die alten Griechen um Rehakles oder die alten Deutschen um Diego Buchwald, sie alle bedienten sich dieser Kampftaktik. Löws Schlüsselspieler Toni Kroos kam überhaupt nicht zur Geltung. Und Löw haderte noch lange mit dieser Niederlage – gegen Italien im EM-Halbfinale 2012.
Es ist die feine Ironie des Schicksals, dass ein und dieselbe Maßnahme jeweils zu Ungunsten von Joachim Löw ausfiel. Bei der EM vor sechs Jahren stellte er Toni Kroos zur Bewachung des von Löw gefürchteten, italienischen Regisseurs Andrea Pirlo ab und beraubte sich deswegen einer wichtigen Option im eigenen Spiel. Deutschland verlor. Nun, im ersten Spiel der WM 2018 für Deutschland, bewachten die Mexikaner den deutschen Spielgestalter. Dessen Name: Toni Kroos. Deutschland verlor.
Das 1:2 gegen Italien war eine Wendemarke in Löws Ära – das 0:1 gegen Mexiko könnte eine werden, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Vor sechs Jahren wurde ihm der überbordende Respekt zum Verhängnis, nun könnte es die überbordende Selbstsicherheit sein.
Das 0:1 kann eine Wendepunkt in Löws Ära werden
Das Spiel gegen Italien war die Katharsis seiner Amtszeit gewesen, der Antrieb für den größten Sprung. Löw galt seinerzeit als der Alleinschuldige am Aus. Boulevardjournalisten durchwühlten den Müll seines Hotelzimmers und präsentierten seinen weggeworfenen Glückspulli wie eine Trophäe des Scheiterns. In der breiten Öffentlichkeit war sein Bild klar umrissen: Er war der Handcreme-Löw, zu weich, zu zaudernd, kein Mann für die großen Spiele. Sein Credo „Nur wer schön spielt, gewinnt den Titel“ wurde ihm im effizienzverliebten Deutschland als Traumtänzer-Attitüde ausgelegt.
Der Stachel saß tief. Anderthalb Monate nach der EM gab Löw eine Pressekonferenz. Er knöpfte erst den obersten Knopf seines Hemdes auf und sich dann die versammelte Medienschar vor. Eine halbe Stunde lang sprach der Bundestrainer, laut und bestimmt. Er kanzelte alle Vorwürfe ab, so kampfeslustig, als würde er sogleich vom Podium aus in einen Zweikampf mit Sergio Ramos springen.
2014 wollte nicht nur er es allen beweisen. Bastian Schweinsteiger kämpfte gegen das „Chefchen“-Stigma, Philipp Lahm, Per Mertesacker, Miroslav Klose, Mesut Özil – auch sie wurden von Stammtischen und selbst seriösen Journalisten als „Memmen“ angezählt. Alles keine Führungsfiguren!
Die Gegner von Löws Mannschaft bei der WM in Brasilien hießen auf dem Papier zwar Ghana, Algerien oder Frankreich, tatsächlich war der größte Gegner die Kritikerriege in der Heimat. Der Trotz einer gesamten Mannschaft und des Trainerteams kulminierte in der beißenden Replik von Per Mertesacker auf die Kritik eines Fernsehreporters: Wat wollense?
2018 müssen sie nichts mehr beweisen. Der WM-Titel hat vieles verändert. Das Bild von Löw changierte vom Handcreme-Löw zum Weltmeister-Jogiiiii, dessen Schrulligkeiten zum Kult verklärt wurden. Bei den TV-Interviews stellten Moderatoren ihm einen Espresso hin und begutachteten ihn beim Trinken, als würde die Queen ihren Nachmittagstee schlürfen. Löw wird nicht mehr laut, er liefert sein „scho au“-Diminuendo, dann geht er.
Nach der Bekanntgabe des endgültigen Kaders lässt er keine Nachfragen zu. Pfiffe gegen Nationalspieler kann er nicht verstehen. Der DFB beendet in bester oder schlechtester Ronald-Pofalla-Manier die Diskussionen um das Erdogan-Foto. Flankiert von dem allgegenwärtigen Protzer-Motto: Best never rest. Der Spruch wirkt wie der mit zu viel Gold behangene Schwergewichtsgürtel eines betagten Boxers. Keiner hat es so deutlich ausgesprochen, aber der Subtext aus vielen Interviews klingt jetzt blasiert: Wat wollense? Wir sind Weltmeister.
Die technische Klasse allein reicht nicht mehr
Mexikos Trainer sagte, seine Mannschaft habe ein halbes Jahr lang die Taktik gegen Deutschland vorbereitet. Tief stehen, schnell umschalten. Das hatte Löw nicht erwartet. Für die Mexikaner war es das Spiel des Jahres. Marco Reus rutschte der Satz heraus, Löw habe ihn nicht gegen die Mexikaner, sondern erst für die „wichtigen Spiele“ eingeplant.
Richtig wichtig wird es gegen die Schweden allemal: Sie räumten Italien aus dem Weg und danach samt ihrer geschlossenen Gruppenstärke ein Fernsehpult. Das war symptomatisch. Der Kapitän Andreas Granqvist steht für ihre Entschlossenheit, er könnte VHS-Kurse in „Bälle resolut aus dem Strafraum schädeln“ anbieten. Deutschland wird sich nicht mehr allein auf seine technische Extraklasse, auf die Zauberfüße von Kroos, Draxler oder Özil verlassen können. Löw muss die Balance finden.
Die Elf braucht in diesem Turnier mehr Körperlichkeit im Strafraum, weil sich auch vermeintlich kleinere Teams in Russland auf eine kompakte Defensive und schnelles Umschalten verstehen. Sie braucht „viele Beine im Mittelfeld“, wie sie in England sagen, also einen für die „Drecksarbeit“ hinter Kroos. Sie braucht die nötige Resilienz auf dem Platz und in der Kabine, die Schweinsteiger oder Mertesacker in Brasilien personifizierten. Sie braucht Pragmatismus beim Torabschluss. Bei der WM 2014 tüftelte Co-Trainer Hansi Flick mit den Spielern Standardsituationen aus, die entscheidende Tore gegen Ghana oder Frankreich einbrachten. Löw sind solche Maßnahmen eigentlich zuwider. Er sagte, man habe dafür „Trainingszeit geopfert“. Doch bei dieser WM in Russland, das zeigen die ersten Tage, fallen bemerkenswert viele Tore nach ruhenden Bällen.
Löw will trotz allem am Plan festhalten – ist er zu stur?
Das wären viele Modifizierungen. Der Bundestrainer meinte jedoch nach dem Mexiko-Spiel: „Den Plan über den Haufen schmeißen – das machen wir schon gar nicht.“ Ist es Entschlossenheit? Oder Sturheit? Natürlich geraten tiefergehende Bewertungen nach nur einem Spiel zu früh. Traditionell lieferte Deutschland immer ein schlechtes Spiel in der Gruppenphase ab und wurde dann meist seinem Ruf als Turniermannschaft gerecht.
Doch selbst im Achtelfinale werden Deutschlands Gegner so auflaufen, als wäre es für sie das Spiel des Lebens. Mexiko war da nur ein Vorgeschmack. Die deutsche Mannschaft hat nicht viel Zeit. Sie muss sich wieder beweisen wollen. Sie muss in den Turniermodus kommen. Das gilt auch und vor allem für Joachim Löw.