Vor einiger Zeit hat unser Autor erkannt: Borussia Dortmund und er – das driftet auseinander. Doch ausgerechnet jetzt kommt dieses eine Gefühl zurück.
Um diese Jahreszeit im vergangenen Jahr musste ich eine seltsame Erkenntnis machen, eine, die mich vor mir selbst erschrecken ließ. Denn das Derby gegen Schalke stand an, Dortmund lag einen Punkt hinter den Bayern auf Platz 2 und wir hatten zu Hause die Chance wieder an die Tabellenspitze zu springen. Doch ich bin nicht hingefahren. Der Grund war simpel wie traurig: Es war mir an dem Wochenende einfach zu viel. Zu viel? Es war dir zu viel zum Derby nach Hause zu fahren? Mein 16-jähriges Ich hätte mir dafür in die Eier getreten.
Die Wahrheit war mir schon einige Zeit vorher bewusst geworden: für mich baut der Fußball seine Anziehungskraft ab. Früher ging’s für mich um nichts anderes. Mein gesamter Alltag war darauf ausgerichtet. Erst kam der BVB, dann alles andere. Ein Dasein, zugespitzt aufs Wochenende. Ich habe mich über den Verein definiert. Für mich wäre es damals auch nicht in Frage gekommen, die Stadt irgendwann mal fürs Studium, für einen Job oder für ein Mädchen zu verlassen. Die einzige Frage, die ich mir gestellt hätte: Wer geht denn dann auf meine Karte?
Heute ist das lange nicht mehr so. Ich bin aus Dortmund weggezogen und mein Lebensmittelpunkt ist ein anderer. Manchmal kursiert meine Karte monatelang durch meinen Freundeskreis und ich weiß nicht mal mehr, wer denn jetzt für mich geht. Ich muss eingestehen – und das fällt mir schwer – ich bin ein Rosinenpicker geworden. Meine letzten Spiele im Westfalenstadion: Inter Mailand und Paris Saint-Germain. Ja, ist doch gut. Ich finde es selber beschämend.
Wenn ich manchmal darüber nachdenke, wie es so kommen konnte, halte ich es für die plausibelste Erklärung, dass ich vergleiche.
Weil ich einfach in meinem Fandasein jetzt schon alles erlebt habe, was ich mir jemals erträumt hätte. Ich habe gesehen, wie Perisic das Ding gegen Arsenal reinhaut, wie Shinji zwei Buden auf Schalke macht, Kuba den Ball in Freiburg übers Tor setzt, Sahin den Ball gegen Bayern reinzirkelt, Novakovic zwei Mal für Köln trifft, Barrios auf der Latte sitzt, Gündogan in Fürth trifft, Lewandowski Neuer drei einschenkt, Schmelle das Tor seines Lebens macht, Santana und Malaga, wie wir Götze schon den Sockel seiner Statue anfertigen, er uns dann das Herz rausreißt, wir nach Wembley fahren, wo Robben uns gebrochen nach Hause schickt, wir plötzlich am Tabellenende stehen und Jürgen verabschieden müssen.
Obwohl ich jeder dieser Szenen nur einen Halbsatz widme, wird jeder Dortmunder genauestens wissen, worum es geht und womöglich auch, wo er diese Szene erlebt hat. Ich weiß es auf jeden Fall, denn für mich war damals klar, ich bin ein Teil von all dem.
Mein Vater war 1955 zum ersten Mal in der Roten Erde, hat Stan Libuda und Lothar Emmerich gesehen, Timo Konietzka und Siggi Held, später Manfred Burgsmüller und Susi Zorc, Kalle Riedle, Jürgen Kohler und die Brasilianer unter Matthias Sammer. Trotzdem sagt er heute, nie war es so schön, wie mit Neven, Manni, Nuri und Co. Diese halbstarken Jungs, die konnten ihn begeistern wie es keine der Generationen zuvor geschafft haben.
Er musste mehr als 50 Jahre auf diese Zeit warten, bei mir waren es ungefähr acht.
Klar, ich hab Andre Bergdölmo und Salvatore Gambino nicht vergessen, mit denen meine Fußballreise begann. Und hierauf folgten Markus Brzenska und Martin Amedick. Aber das Warten war es wert für diese fetten Jahre. Was also sollte nach der Zeit zwischen 2008 und 2015 für mich als Fan noch kommen?
Ich jammere auf hohem Niveau, das weiß ich. Würden meine Scheuklappen einen Umkreis von 40 Kilometer fassen, dann sähe ich Wattenscheid begraben, Rot-Weiss Essen in der Regionalliga herumkrebsen und Schalke … gut, lassen wir das.