Bitte nicht weiterlesen: Die Ausschreitungen beim Pokalspiel zwischen Hansa Rostock und Hertha BSC erinnern an Rituale einer öden Kneipenschlägerei. Randale mit Ansage, die sich wohl nur verhindern lässt, wenn man sie ignoriert.
Als ich Teenager war, gingen wir jeden Sonntagnachmittag in eine Disco. Die Musik war mittelmäßig, aber das Licht gedimmt, die Mädchen unbeschwert und ein paar Jungs vom Land gaben den Ton an. Nicht, weil sie besonders gute Sprüche drauf hatten, einen coolen Look oder die richtigen Platten hörten. Sie hatten uns lediglich voraus, dass es ihnen nichts ausmachte, anderen Leuten ohne Skrupel in die Fresse zu hauen, wenn ihnen danach war. Insofern war die Entscheidung, sich freiwillig in die Gesellschaft solcher Typen zu begeben, für uns ein erster Flirt mit der Gefahr.
Der Skrupelloseste unter den Landschlägern hieß Hartmut. Nüchtern war er eine naive Seele, der auf den ersten Blick ganz umgänglich erschien. Offenbar hatte er einen Narren an mir gefressen, sodass er sich öfters mit mir unterhielt, was mein Prestige am Tresen der Dorfdisco sprunghaft erhöhte.
Bock auf Zanke
Doch hatte Hartmut einen Schnaps zu viel, bekam er, wie er zugab „Bock auf Zanke“. Und so verlief jeder Sonntag nach einem festgelegten Ritual. Wie in einer rumpeligen Ballettaufführung wartete er ab einer bestimmten Uhrzeit vor der Eingangstür darauf, dass sich irgendjemand auffällig verhielt. Auffällig konnte in seinem Fall alles bedeuten: lautes Sprechen, Rumknutschen, Hantieren mit einem Fahrradschlosses, was auch immer.
Sobald Hartmut ein potentielles Opfer ausgemacht hatte, begann im „Pianissimo“ unmerklich der Tanz. Viele Besucher wussten bereits, wann die Show in etwa losgeht, im Verlauf des späteren Nachmittags kamen immer mehr Leute vor die Tür. Das übliche Geplänkel: „Was willst Du denn?“, „Machst Du mich an?“, „Vorsicht, mein Lieber, vorsicht!“. Ein bisschen Ausdruckstanz mit den Kumpels: „Lasst mich los, lasst mich, ich hau ihm auf die Schnauze.“ Und schließlich: zack! Jeder Schläger weiß, das Überraschungsmoment sollte man immer auf der eigenen Seite habe.
Es folgte ein kurzes Handgemenge, das meist ohne Gegenwehr des Opfers verlief. Um den Schaden gering zu halten. Hartmut war ein Bär, Körpertreffer machten ihm nichts aus, sondern förderten seine Freude am Schlagabtausch erst. Und wenn ich abends beim Essen meiner Mutter von den Ereignissen erzählte, sagte sie besorgt: „Ist ja furchtbar, ist ja furchtbar. Willst da wirklich wieder hingehen?“
Wer knallt hier durch?
Woche für Woche, Jahr für Jahr dasselbe Schauspiel. Irgendwann entwuchs ich dem Alter, in dem man in Teeniedissen geht. Später las ich, dass der Laden wegen Drogenhandels geschlossen worden war. Von Hartmut habe ich nie wieder gehört. Der Eingang der Tanzhalle war sein Königreich, seine rechte Faust das Zepter, ohne Fratzengeballer war er ein Nichts. Ein Bekannter eines Bekannten erzählte mir Jahre später, er sei in den Knast gegwandert. Keine Ahnung, ob da was dran ist.
An Hartmut musste ich nun denken, als ich das Spiel von Hertha BSC bei Hansa Rostock sah. Ähnelte die Dramaturgie doch auf seltsame Weise dem Schauspiel in meiner Dorfdisco damals in den Achtzigern. Jedem in der Fußballgemeinde war klar, dass Teile des Anhangs beider Klubs nur allzu gern aufeinander losgehen. Hansa-Vorstand Robert Marien hatte im Vorfeld des Spiels in einem offenen Brief inständig gebeten, im Interesse des gebeutelten Ostsee-Klubs ruhig zu blieben, um keine weiteren Sanktionen durch das DFB-Sportgericht hervorzurufen. Für den erlebnisorientierten Anhang war dieser Aufruf offenbar wie für Hartmut die Jungs, die ihn, den wilden Stier, noch mit vereinten Kräften vorm Durchknallen zurückhalten wollten.