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Jeder Schritt wir­belt eine dichte Staub­wolke auf. Es hat lange nicht geregnet. Der san­dige Acker ist kno­chen­tro­cken. Zudem ist der Unter­grund übersät mit kleinen Steinen. Der abge­wetzte Leder­ball tanzt lau­nisch auf dem holp­rigen Platz. Die Akteure stört das nicht.

Eng führen sie den Ball am Fuß. Er gehorcht ihnen, als würde es die Schlag­lö­cher nicht geben. Nicht alle tragen Schuhe. Auch barfuß jagen sie dem Spiel­gerät mit vollem Eifer hin­terher.

Fuß­ball – das ist in Bra­si­lien mehr als nur ein Spiel. Es ist Kultur, ein Lebens­ge­fühl.

Seinen Reiz hat der Fuß­ball nicht ver­loren. Natür­lich nicht

Im Land des fünf­fa­chen WM-Sie­gers sind Stra­ßen­fuß­baller noch all­ge­gen­wärtig. Kaum ein Bra­si­lianer kann dem Reiz des runden Leders wider­stehen. Das Spiel treibt ihnen ein Lächeln auf die Lippen. Egal, wie beschieden die Lebens­um­stände auch sein mögen.

Gerade in den unteren Gesell­schafts­schichten ist Fuß­ball die Frei­zeit­be­schäf­ti­gung Nummer eins. In den Armen­vier­teln, den Favelas, kicken die Men­schen mit nicht enden wol­lender Aus­dauer.

Das müssen in diesen Tagen auch die WM-Gegner vom lokalen Bür­ger­ko­mitee Comitê Popular da Copa“ erkennen, die in der Favela Moinho im Zen­trum von São Paulo die Copa Rebelde“ („Rebellen-Tur­nier“) aus­richten. Par­allel zu den offi­zi­ellen Titel­kämpfen der Fifa sind hier die­je­nigen am Ball, die sich den Ein­tritt für ein Spiel im der neuen WM-Arena im öst­li­chen Stadt­teil Ita­quera nicht leisten können.

Seit 2011 hat die Bewe­gung aus ver­schie­denen sozialen Grup­pie­rungen lan­des­weit an allen zwölf WM-Aus­tra­gungs­orten den Pro­test gegen die WM organ­siert. Die hor­renden Aus­gaben in Höhe von ins­ge­samt knapp zehn Mil­li­arden Euro für moderne Sta­dien sowie auf­wen­dige Infra­struk­tur­pro­jekte und damit ver­bun­dene Ver­trei­bungen tau­sender Men­schen aus ihren Häu­sern standen dabei im Mit­tel­punkt der Kritik.

Die Wut ist größer als die Lei­den­schaft für das Spiel

Doch all das scheint nun ver­gessen zu sein. Zwar hängt über dem Sport­platz ein rie­siges Banner, auf dem steht: Die Fifa ist eine Bande von Ter­ro­risten.“ Die Lei­den­schaft für den Fuß­ball – und vor allem die Seleção – ist aller­dings größer als die Wut über gie­rige Poli­tiker und die in Kor­rup­ti­ons­ver­dacht ste­hende Fifa.

Gleich ist es so weit. Der zweite Auf­tritt der Gast­geber gegen Mexiko. In der Luft liegt der Duft von frisch gegrilltem Fleisch. Als Neymar und Kol­legen in die Arena von For­ta­leza ein­laufen, sitzen die Bewohner von Moinho vor ihren pre­kären Hütten aus Holz­planken und unver­putzten Back­steinen.

Gebannt starren sie auf die Bild­schirme der Fern­seher, die sie nach draußen gestellt haben. Die Woh­nungen sind teils nur wenige Qua­drat­meter groß. Drinnen ist zum gemein­samen Fuß­ball-Gucken mit Freunden und Familie kein Platz.

Mehr­fach reißt es Alt und Jung von ihren Plas­tik­stühlen. Den Tor­schrei auf den Lippen, die Arme zum Jubeln in die Luft gereckt. Doch das erlö­sende Tor für die Seleção will nicht fallen. Fans und Spieler ver­zwei­feln an Mexikos Tor­hüter Ochoa.

Allein in Sao Paulo leben rund eine Mil­lion Men­schen in Favelas

Am Ende reicht es nur zu einem tor­losen Remis. Die Ent­schei­dung über den Einzug ins Ach­tel­fi­nale ist ver­tagt. Gefeiert wird ent­lang der Bahn­schienen trotzdem.

Nur Edna mag nicht so recht in die Fei­er­laune ein­stimmen. Sie sitzt auf der Tür­schwelle ihres Hauses und schaut in die Abend­sonne. Auf dem Fuß­ball­platz kicken immer noch einige Kinder. Das Erd­ge­schoss von Ednas Heim ist aus Stein, das Ober­ge­schoss aus Holz gebaut, die Tür aus ein paar dünnen Holz­bret­tern zusam­men­ge­zim­mert, ebenso der dar­über lie­gende Balkon.

Edna wohnt in Moinho, einem Armen­viertel, von denen es hun­derte in Bra­si­liens Groß­städten gibt. Allein in São Paulo wohnen nach Angabe von sozialen Orga­ni­sa­tionen etwa eine Mil­lion Men­schen in sol­chen Sied­lungen. Manchmal sind die Häuser nur aus Papp­kar­tons, Sperr­holz- oder Blech­platten gebaut, in den bes­seren“ Favelas bestehen sie bereits aus Holz oder Stein.

Allen Bewoh­nern dieser Viertel ist gemeinsam, dass ihnen Grund und Boden nicht gehört. Viele von ihnen sind mit der Hoff­nung auf ein bes­seres Leben vom Land in die Stadt gekommen und haben sich eine Bleibe gebaut, wo gerade Platz war. Wir könnten jeder­zeit von hier ver­trieben werden“, sagt Edna. Diese Unsi­cher­heit ist schreck­lich.“

Die Augen der kleinen Frau mit dem gelockten, schwarzen Haar sind auf den Platz gerichtet, wo eine Gruppe Jugend­li­cher immer noch nicht genug hat. Mit der rechten Hand strei­chelt sie ihre kleine, schwarze Misch­lings­hündin Nina. Mit der anderen Hand deutet sie auf einen Teen­ager auf dem Spiel­feld: Das ist mein Sohn“, sagt sie. Ihre Augen leuchten. Der schießt immer die Tore.“

Klar, auch sie sei Fuß­ball-Fan, sagt Edna und holt aus ihrem Zimmer ein Poster von ihrem Team, dem Erst­li­ga­club FC Santos. Das Bild ist schon ein paar Jahre alt und zeigt den heu­tigen Bar­ce­lona-Star Neymar, auf dem bei der Heim-WM die Hoff­nungen seiner Lands­leute ruhen.

In ihrem tiefsten Inneren wünscht sich auch Edna, dass Bra­si­lien zum sechsten Mal Welt­meister wird. Aber die Spiele der WM schaut sie sich nicht an. Was habe ich von dieser WM?“, fragt sie.

Ein Ticket fürs Sta­dion könne sie sich nicht leisten. Ver­bes­se­rungen habe ihr die WM nicht gebracht. Dabei hatte die Regie­rung ver­spro­chen, den öffent­li­chen Ver­kehr zu ver­bes­sern und neue Sozi­al­woh­nungen zu bauen. Aber sie wohnt wei­terhin in einer Baracke und steht täg­lich im Stau, wenn sie mit dem Bus fährt. Das Geld für Sta­dien hätte anders aus­ge­geben werden müssen“, sagt sie.

Das Gesund­heits­system garan­tiert zwar kos­ten­lose Behand­lungen – aber die kommen meist zu spät

Edna zeigt auf die Finger ihrer linken Hand. Mittel- und Ring­finger sind dick und steif und stehen gegen­über den anderen Fin­gern ab. Vor zwei Jahren hat mir der Arzt gesagt, dass ich drin­gend etwas machen muss“, erzählt sie. Seitdem warte ich auf einen OP-Termin.“ Die öffent­li­chen Kran­ken­häuser seien alle über­füllt. Das bra­si­lia­ni­sche Gesund­heits­system garan­tiert zwar jedem Bürger kos­ten­lose Behand­lungen. Bis die Ärzte aller­dings Zeit haben, ist der Patient manchmal schon gestorben.

Edna geht hinein ins Haus. Gleich hinter der Tür stehen ein Fern­seher und zwei Sessel. Ein kleiner Durch­gang führt in die Küche, die zwi­schen Herd und Tisch gerade Platz für zwei Per­sonen bietet.

Eine Holz­leiter, auf der einige Sprossen fehlen, führt zum Schlaf­zimmer im Ober­ge­schoss. Hier lebt die 56-Jäh­rige mit ihrem dritten Ehe­mann Ange­lino und ihrem Sohn Fran­cisco Rodri­gues. Ihre übrigen acht Kinder sind bereits aus­ge­zogen.

Zwi­schen den Seiten einer Bibel hat Edna Fotos ihrer Kin­der­schar und ihrer sieben Enkel gelegt. Manchmal liest sie darin. Und jeden Sonntag geht sie zur Kirche. Das gibt mir Kraft“, sagt sie.

Ich hoffe, dass mein Sohn einmal ein bes­seres Leben führen kann“, sagt die Mutter, die ihr ganzes Leben lang in ver­schie­denen Favelas gelebt hat und sich den Lebens­un­ter­halt als Haus­häl­terin ver­dient. Ihr Mann ist LKW-Fahrer. Ihr Sohn trägt Pizza aus.

Mein ganzes Leben war Favela“

Aus dem kleinen Fenster im Schlaf­zimmer, das so hoch ist, dass Edna nur auf Zehen­spitzen ste­hend hin­aus­bli­cken kann, schaut sie auf die angren­zenden Hoch­häuser der rei­cheren Wohn­viertel: Mein Traum wäre es, ein Haus zu haben“, sagt sie. Mein ganzes Leben war nur Favela. Man muss jeden Tag damit rechnen, raus­ge­schmissen zu werden. Mit einem eigenen Heim wäre das anders.“

Als die Akti­visten sich all­mäh­lich zurück­ziehen, wird bei Bier und Hot Dogs noch eifrig über die ver­ge­benen Chancen von Neymar und Kol­legen dis­ku­tiert. Iva­nildo da Silva, ein Mit­glied des Bür­ger­ko­mi­tees sagt: Wir ver­stehen, dass die Men­schen die Spiele sehen wollen. Auch wenn die WM im Wider­spruch zu ihren Lebens­um­ständen steht.“

In den nächsten Tagen wollen sie wie­der­kommen. Mit viel Auf­merk­sam­keit dürfen sie aber auch dann nicht rechnen. Die Seleção geht vor. Auch er sei zwar gegen die hohen Kosten der WM, sagt Iva­nildo da Silva. Die Spiele will ich aber in aller Ruhe ver­folgen.“ Dafür hat er sich erst kürz­lich einen neuen Flach­bild­fern­seher gekauft.