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Seite 2: Wir lieben das Radio – und Mijat Gacinovic

Für die dösenden Kinder auf dem Rückweg vom Spiel“

Ron Ulrich

Wenn Reporter ful­mi­nante Schüsse ver­melden, erin­nert sich Ron Ulrich an Dietmar Schott und Manni Breuck­mann.

Ich habe Dietmar Schott nie per­sön­lich getroffen, seine Stimme jedoch würde ich unter tau­senden erkennen. Schott mode­rierte früher, als Nach­folger des legen­dären Kurt Brumme, die Bun­des­li­ga­kon­fe­renz im Radio auf WDR2 mit derart besänf­ti­gendem, sonorem Timbre, dass er wohl auch den Fami­li­en­streit der Gal­lagher-Brüder bei Oasis hätte befrieden können. Und mich hat er in den neun­ziger Jahren im Grund­schul­alter auch befriedet, und zwar an den Sams­tag­abenden gegen 17.40 Uhr. 

Ich kam völlig erschöpft aus dem Sta­dion, hatte mir in dieser Aben­teu­er­welt der Erwach­senen bis zur Hei­ser­keit die Seele aus dem Leib geschrien und saß nun auf der Rück­bank im Auto meines Vaters. In meiner Erin­ne­rung beschlugen die Sei­ten­scheiben, regen­durch­nässte blaue Schals hingen rechts und links aus den Fens­tern, die Rück­lichter der Autos in der Schlange schim­merten durchs Dunkel, mein Vater und seine Freunde dis­ku­tierten über das Spiel, schimpften auf den Trainer oder auf Men­schen mit so lus­tigen Namen wie Kohl oder Kinkel. 

Das kind­liche Adre­nalin ließ langsam nach und ich döste leicht, als Dietmar Schott mit der Ruhe eines antiken Stoi­kers die tur­bu­lenten Ereig­nisse der anderen Plätze nach­er­zählte. Danach spielte er meist ein typi­sches WDR2-Lied, Tracy Chapman oder Van Mor­rison. Er sagte schließ­lich etwas wie Noch einen schönen Abend, meine Damen und Herren“. Und alles war gut. Bis zum nächsten Wochen­ende, wenn meine Mann­schaft aus­wärts ran musste. Da hing ich wieder an den Radio­stimmen von Schott und seinen Repor­tern in den Sta­dien, den ein­zigen Infor­ma­ti­ons­quellen lange vor Live­spielen im Fern­sehen, Twitter oder You­tube.

Aber Rüdiger Voll­born hat den Braten gero­chen“

Mir blieb nichts anderes übrig, als mir die pau­sen­losen Angriffe und Paraden vor­zu­stellen. Und in den Musik­pausen schnappte ich mir den Leder-ball und don­nerte ihn gegen das Gara­gentor, um den Rück­stand meiner Mann­schaft selbst noch zu drehen. Und sie lag oft zurück. Ich kom­men­tierte die eigenen Schüsse, röchelte mit der Hand vor dem Mund, um die Sta­di­on­ge­räu­sche zu imi­tieren. Dann kam die Schluss­kon­fe­renz: Rolf Rainer Gecks, Manni Breuck­mann, Tom Bayer und natür­lich Gün­ther Koch über­schlugen sich mit ihren Schil­de­rungen und Sprach­bil­dern. Der Ausruf Gefähr­li­cher Ball, in den Straf­raum, aber Rüdiger Voll­born hat den Braten gero­chen“, ist mir – warum auch immer – noch heute im Gedächtnis. 

Damals legte ich Kas­setten ins Deck, drückte die Play- und Record-Taste gleich­zeitig, um meine eigenen Phan­ta­sie­re­por­tagen auf Band ein­zu­spre­chen. Sehr oft musste dabei Voll­born den Braten rie­chen, Iva­n­auskas ful­mi­nant“ abziehen und Youri Mulder in den ersten sieben Minuten Gelb sehen, drei Tor­chancen ver­geben, aber auch einen Dop­pel­pack schnüren. Die ima­gi­nierten Spiele gingen 7:5 oder 6:6 aus, so eine Kas­set­ten­seite konnte schließ­lich ver­dammt lang werden. 

Vor einigen Wochen hörte ich die Berichte der Bun­des­liga, als Frank­furt die Bayern sen­sa­tio­nell mit 5:1 schlug. Ich hätte mir die Szenen schnell auf You­tube, die Video­schnipsel auf Twitter oder gar im ZDF-Stream anschauen können. Doch ich ließ das Handy in der Tasche und stellte mir vor, wie Paci­encia den Ball zum 5:1 über die Linie drückt“. In einer bild­über­flu­teten Gegen­wart lässt das Radio noch etwas Raum für Phan­tasie, und die braucht ein Fuß­ballfan so sehr wie irra­tio­nalen Opti­mismus. Und irgendwo schlum­merte viel­leicht ein Kind im Frank­furt-Trikot zu den Radio­nach­be­richten, total ermattet von den Ein­drü­cken im Sta­dion. Und viel­leicht schnappte sich anderswo ein Mäd­chen oder ein Junge den Ball, wild ent­schlossen, den Rück­stand selbst zu drehen. Das war so ein beru­hi­gender Gedanke. Ich würde dem Kind sogar nach­sehen, wenn es dabei ein Bayern-Trikot trüge.

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Sebas­tian Wells

Das Finale ist eine Tür zu einem son­ni­geren Ort“

Stephan Reich

Gaci­n­o­vics Tor im Finale gegen die Bayern hat für Ste­phan Reich und viele andere Ein­tracht-Fans alles ver­än­dert

Was pas­siert hier?“, fragt mein Cousin und schüt­telt den Kopf. Wir stehen auf dem Praça do Comercio in Lis­sabon und blin­zeln ratlos in die Sonne eines Früh­som­mer­tags, an dessen Ende ein Euro­pa­cup­spiel gegen Ben­fica wartet. Er zuckt die Ach­seln, ich zucke die Ach­seln, wir trinken Bier und sehen einem Ein­tracht-Fan dabei zu, wie er sich die Gitarre eines Stra­ßen­mu­si­kers leiht und darauf Im Herzen von Europa“ spielt. Im Hin­ter­grund hisst einer eine SGE-Fahne, Dealer stehen rum und ver­gessen ihr Tag­werk, fach­sim­peln lieber mit den Frank­fur­tern über das anste­hende Spiel.

Mein Cousin meint nicht den Musiker, nicht die Fahnen oder Dealer. Er meint das alles. Die Fans, die mit ungläu­biger Miene durch den plötz­li­chen Erfolg ihres Ver­eins stol­pern. Die emo­tio­nale Erschüt­te­rung, die es bedeutet, gerade Fan von Ein­tracht Frank­furt zu sein. Dieses gute Gefühl, fas­sungslos den Kopf zu schüt­teln. Seit wir klein sind, hängen wir an der Ein­tracht, und bei allem Spaß war das all die Jahre auch ein tiefes Tal, das es tapfer zu durch­schreiten galt. Die ver­ge­benen Chancen und unein­ge­lösten Ver­spre­chen, das stete Hät­te­wä­re­wenn, die Abstiege, Mit­tel­maß­jahre, all die Rob Fri­ends und Ivica Mornars. Hätte ich je gedacht, dass es anders würde? Und hätte das was geän­dert? 

Wir lieben diesen Sport ja trotzdem, lat­schen weiter ins Sta­dion, treffen Freunde, schreien den Fern­seher an oder umarmen ihn bis­weilen. Dass am Ende sowieso die anderen gewinnen, das war doch immer klar. Oder nicht? Was pas­siert hier, was geht denn hier ab?“, schreit der Bayern-Fan in dem You­tube-Video, in dem die 96. Minute des Pokal­fi­nals 2018 läuft. Mijat Gaci­n­ovic rennt und rennt, sprintet aufs leere Tor zu, dann zu den fei­ernden Fans, bis in die Geschichts­bü­cher und weiter, quer in die Leben so vieler Men­schen. 

Auf so eine Art ungläubig sein zu können, ist ein Geschenk

Wenige Plätze unter dem fil­menden Fan muss ich irgendwo stehen. Ich halte meinen Cousin im Arm, er hat die Augen geschlossen und schreit, als der Ball über die Linie rollt. Als wir klein waren, schossen wir die Ein­tracht auf dem Bolz­platz zur Meis­ter­schaft. Die Rea­lität, das ahnten wir, war eine andere. Abstiege, Nacken­schläge, die vielen Tage auf ver­reg­neten Steh­ter­rassen oder in die­sigen Fuß­ball­kneipen, dieser schlechte Atem immer­wäh­render Ver­geb­lich­keit. Bis, ja bis. 

Der Moment, in dem ich meinen Cousin im Pokal­fi­nale im Arm halte, ist bis heute eine Tür zu einem son­ni­geren Ort, die ich jeder­zeit öffnen kann. Das Gefühl einer sich schlie­ßenden Wunde. Das Pokal­fi­nale ist andert­halb Jahre her, es geht alles so schnell. Feier am Römer, Inter, Ben­fica, Chelsea, 57 Tore von drei his­to­risch guten Stür­mern. Jetzt stehen wir auf der Tri­büne, sehen ein 5:1 gegen die Bayern in der Bun­des­liga und uns gehen die Worte aus. Auf so eine Art ungläubig sein zu können, denke ich, ist ein Geschenk.

Was pas­siert hier“, fragt mich ein Freund später am Abend vor dem Sta­dion. Er hat sich Gaci­n­o­vics Tor auf den Arm täto­wieren lassen, und spre­chen wir betrunken über den Abend im Mai 2018 in Berlin, weint er manchmal ein biss­chen. So wie ihm, so wie mir geht es tau­senden Fans. Viel­leicht dreht sich der Fuß­ball, ja ein ein­zelnes Spiel, manchmal so schnell und unver­hofft, dass es eine ganze Menge Leben ein­fach mit sich dreht. Auf den Kopf, zum Guten, aus der Fas­sung, wohin auch immer.