Genervt von den Widrigkeiten des modernen Fußballs? Wir erklären zum Valentinstag, warum wir den Fußball immer noch lieben. Trotzdem und jetzt erst recht und mehr denn je.
„Für die dösenden Kinder auf dem Rückweg vom Spiel“
Ich habe Dietmar Schott nie persönlich getroffen, seine Stimme jedoch würde ich unter tausenden erkennen. Schott moderierte früher, als Nachfolger des legendären Kurt Brumme, die Bundesligakonferenz im Radio auf WDR2 mit derart besänftigendem, sonorem Timbre, dass er wohl auch den Familienstreit der Gallagher-Brüder bei Oasis hätte befrieden können. Und mich hat er in den neunziger Jahren im Grundschulalter auch befriedet, und zwar an den Samstagabenden gegen 17.40 Uhr.
Ich kam völlig erschöpft aus dem Stadion, hatte mir in dieser Abenteuerwelt der Erwachsenen bis zur Heiserkeit die Seele aus dem Leib geschrien und saß nun auf der Rückbank im Auto meines Vaters. In meiner Erinnerung beschlugen die Seitenscheiben, regendurchnässte blaue Schals hingen rechts und links aus den Fenstern, die Rücklichter der Autos in der Schlange schimmerten durchs Dunkel, mein Vater und seine Freunde diskutierten über das Spiel, schimpften auf den Trainer oder auf Menschen mit so lustigen Namen wie Kohl oder Kinkel.
Das kindliche Adrenalin ließ langsam nach und ich döste leicht, als Dietmar Schott mit der Ruhe eines antiken Stoikers die turbulenten Ereignisse der anderen Plätze nacherzählte. Danach spielte er meist ein typisches WDR2-Lied, Tracy Chapman oder Van Morrison. Er sagte schließlich etwas wie „Noch einen schönen Abend, meine Damen und Herren“. Und alles war gut. Bis zum nächsten Wochenende, wenn meine Mannschaft auswärts ran musste. Da hing ich wieder an den Radiostimmen von Schott und seinen Reportern in den Stadien, den einzigen Informationsquellen lange vor Livespielen im Fernsehen, Twitter oder Youtube.
Mir blieb nichts anderes übrig, als mir die pausenlosen Angriffe und Paraden vorzustellen. Und in den Musikpausen schnappte ich mir den Leder-ball und donnerte ihn gegen das Garagentor, um den Rückstand meiner Mannschaft selbst noch zu drehen. Und sie lag oft zurück. Ich kommentierte die eigenen Schüsse, röchelte mit der Hand vor dem Mund, um die Stadiongeräusche zu imitieren. Dann kam die Schlusskonferenz: Rolf Rainer Gecks, Manni Breuckmann, Tom Bayer und natürlich Günther Koch überschlugen sich mit ihren Schilderungen und Sprachbildern. Der Ausruf „Gefährlicher Ball, in den Strafraum, aber Rüdiger Vollborn hat den Braten gerochen“, ist mir – warum auch immer – noch heute im Gedächtnis.
Damals legte ich Kassetten ins Deck, drückte die Play- und Record-Taste gleichzeitig, um meine eigenen Phantasiereportagen auf Band einzusprechen. Sehr oft musste dabei Vollborn den Braten riechen, Ivanauskas „fulminant“ abziehen und Youri Mulder in den ersten sieben Minuten Gelb sehen, drei Torchancen vergeben, aber auch einen Doppelpack schnüren. Die imaginierten Spiele gingen 7:5 oder 6:6 aus, so eine Kassettenseite konnte schließlich verdammt lang werden.
Vor einigen Wochen hörte ich die Berichte der Bundesliga, als Frankfurt die Bayern sensationell mit 5:1 schlug. Ich hätte mir die Szenen schnell auf Youtube, die Videoschnipsel auf Twitter oder gar im ZDF-Stream anschauen können. Doch ich ließ das Handy in der Tasche und stellte mir vor, wie „Paciencia den Ball zum 5:1 über die Linie drückt“. In einer bildüberfluteten Gegenwart lässt das Radio noch etwas Raum für Phantasie, und die braucht ein Fußballfan so sehr wie irrationalen Optimismus. Und irgendwo schlummerte vielleicht ein Kind im Frankfurt-Trikot zu den Radionachberichten, total ermattet von den Eindrücken im Stadion. Und vielleicht schnappte sich anderswo ein Mädchen oder ein Junge den Ball, wild entschlossen, den Rückstand selbst zu drehen. Das war so ein beruhigender Gedanke. Ich würde dem Kind sogar nachsehen, wenn es dabei ein Bayern-Trikot trüge.
„Das Finale ist eine Tür zu einem sonnigeren Ort“
„Was passiert hier?“, fragt mein Cousin und schüttelt den Kopf. Wir stehen auf dem Praça do Comercio in Lissabon und blinzeln ratlos in die Sonne eines Frühsommertags, an dessen Ende ein Europacupspiel gegen Benfica wartet. Er zuckt die Achseln, ich zucke die Achseln, wir trinken Bier und sehen einem Eintracht-Fan dabei zu, wie er sich die Gitarre eines Straßenmusikers leiht und darauf „Im Herzen von Europa“ spielt. Im Hintergrund hisst einer eine SGE-Fahne, Dealer stehen rum und vergessen ihr Tagwerk, fachsimpeln lieber mit den Frankfurtern über das anstehende Spiel.
Mein Cousin meint nicht den Musiker, nicht die Fahnen oder Dealer. Er meint das alles. Die Fans, die mit ungläubiger Miene durch den plötzlichen Erfolg ihres Vereins stolpern. Die emotionale Erschütterung, die es bedeutet, gerade Fan von Eintracht Frankfurt zu sein. Dieses gute Gefühl, fassungslos den Kopf zu schütteln. Seit wir klein sind, hängen wir an der Eintracht, und bei allem Spaß war das all die Jahre auch ein tiefes Tal, das es tapfer zu durchschreiten galt. Die vergebenen Chancen und uneingelösten Versprechen, das stete Hättewärewenn, die Abstiege, Mittelmaßjahre, all die Rob Friends und Ivica Mornars. Hätte ich je gedacht, dass es anders würde? Und hätte das was geändert?
Wir lieben diesen Sport ja trotzdem, latschen weiter ins Stadion, treffen Freunde, schreien den Fernseher an oder umarmen ihn bisweilen. Dass am Ende sowieso die anderen gewinnen, das war doch immer klar. Oder nicht? „Was passiert hier, was geht denn hier ab?“, schreit der Bayern-Fan in dem Youtube-Video, in dem die 96. Minute des Pokalfinals 2018 läuft. Mijat Gacinovic rennt und rennt, sprintet aufs leere Tor zu, dann zu den feiernden Fans, bis in die Geschichtsbücher und weiter, quer in die Leben so vieler Menschen.
Wenige Plätze unter dem filmenden Fan muss ich irgendwo stehen. Ich halte meinen Cousin im Arm, er hat die Augen geschlossen und schreit, als der Ball über die Linie rollt. Als wir klein waren, schossen wir die Eintracht auf dem Bolzplatz zur Meisterschaft. Die Realität, das ahnten wir, war eine andere. Abstiege, Nackenschläge, die vielen Tage auf verregneten Stehterrassen oder in diesigen Fußballkneipen, dieser schlechte Atem immerwährender Vergeblichkeit. Bis, ja bis.
Der Moment, in dem ich meinen Cousin im Pokalfinale im Arm halte, ist bis heute eine Tür zu einem sonnigeren Ort, die ich jederzeit öffnen kann. Das Gefühl einer sich schließenden Wunde. Das Pokalfinale ist anderthalb Jahre her, es geht alles so schnell. Feier am Römer, Inter, Benfica, Chelsea, 57 Tore von drei historisch guten Stürmern. Jetzt stehen wir auf der Tribüne, sehen ein 5:1 gegen die Bayern in der Bundesliga und uns gehen die Worte aus. Auf so eine Art ungläubig sein zu können, denke ich, ist ein Geschenk.
„Was passiert hier“, fragt mich ein Freund später am Abend vor dem Stadion. Er hat sich Gacinovics Tor auf den Arm tätowieren lassen, und sprechen wir betrunken über den Abend im Mai 2018 in Berlin, weint er manchmal ein bisschen. So wie ihm, so wie mir geht es tausenden Fans. Vielleicht dreht sich der Fußball, ja ein einzelnes Spiel, manchmal so schnell und unverhofft, dass es eine ganze Menge Leben einfach mit sich dreht. Auf den Kopf, zum Guten, aus der Fassung, wohin auch immer.