Genervt von den Widrigkeiten des modernen Fußballs? Wir erklären zum Valentinstag, warum wir den Fußball immer noch lieben. Trotzdem und jetzt erst recht und mehr denn je.
„Der VfL Bochum rettet mich vor dem Fußball“
Gut, dass die Wasserflasche leer und vor allem nicht aus Glas war. Sonst wäre sie wohl in tausend Teile zersplittert, obwohl sie doch auch nichts dafür konnte, dass der Karlsruher SC in der Nachspielzeit noch den Ausgleich geschossen hatte, und das auch noch in Unterzahl. Wütend brabbelte ich vor mich hin, wie einer dieser alten Männer, die gemeinhin als „verwirrt“ bezeichnet und später dann „aufgegriffen“ werden. Dabei hörte mir niemand zu, ich war nämlich allein in meiner Eremitage: nur der Fernseher, der Zweitligist VfL Bochum und ich.
Ich könnte an dieser Stelle zur großen Beschwerde darüber anheben, dass ich mir Spiele zu seltsamen Anstoßzeiten anschauen muss, bevor der richtige Fußball gezeigt wird. Ich könnte beklagen, dass mein Klub es seit einem Jahrzehnt nicht hinbekommt, mal wieder in der Bundesliga zu spielen, mit der ich im Ruhrstadion aufgewachsen bin. Ich könnte über seltsame Managemententscheidungen oder Spieler mit sehr übersichtlichem Talent spotten. Aber das würde der Sache nicht gerecht werden, denn seit 45 Jahren macht dieser Klub mich glücklich. Denn er rettet mich, jede Woche, ob am Freitag um halb sieben, am Samstag um eins oder am Montag um halb neun.
Der VfL Bochum rettet mich vor dem Fußball, oder genauer: vor dem gewaltigen Haufen Schrott, der sich inzwischen über dem Fußball auftürmt. Ich will gar nicht die ganze Litanei über Gier und Korruption herunterbeten und wie die Großen sich auf Kosten der Kleinen den Fußball so hingebastelt haben, wie er ihnen gefällt. Ich will nicht die Welt der Mittwochs-um-neun-Uhr-Klubs beklagen und eine winterliche WM in Katar. All das erschöpft mich viel zu sehr, und noch mehr tut das jeden Tag der mediale Müll von Pushnachrichten über angebliche Krisen irgendwo und über das „Wochenende der Giganten“, wenn doch nur der Tabellenzweite beim Tabellenvierten antritt, dargeboten von gebeutelten Außenreportern, die an der Säbener Straße das pure Nichts verbreiten – diese ganze Mentalitätsscheiße halt.
Aber dann kommt der VfL Bochum, und alles ist wieder in Ordnung. Außer natürlich unsere Innenverteidigung. Das liegt nicht etwa daran, dass es menschlich edler oder moralisch hochwertiger ist, einen eher mitteltollen Verein zu supporten, zu dem selbst den größten Social-Media-Hysterikern keine Breaking News einfallen. Aber ich habe halt keinen anderen, weshalb ich also auf dem Sofa hocke, mit verschränkten Armen, und still den Fernseher anschreie. Und wenn sich die Dinge zuspitzen, verstoße ich sogar gegen das in der Wohnung geltende Rauchverbot, schließlich habe ich im Laufe vieler Jahre eine hochentwickelte Technik entwickelt, Tore reinzurauchen.
Manchmal mache ich mich von meiner Mönchszelle auch auf den Weg ins Stadion, da ist es noch viel schöner. Aber auch allein daheim fühle ich mich nie einsam, weil ich weiß, dass ich einer von Hunderttausenden bin. Bei unseren Ekstasen auf dem Sofa versichern wir uns verlässlich, worum es bei dem ganzen Quatsch eigentlich geht. Um sinnlose, rückhaltlose und fraglose Liebe, die nicht kleinzukriegen ist. Aber sonst wäre es ja auch keine Liebe.
„Den Gegenspieler tunneln, ganz ohne Beinberührung“
Die Idee war verwegen, aber zum Scheitern verurteilt. Im Spätherbst 2009 zog ich aus meiner Heimatstadt Berlin nach Freiburg, offiziell zum Studieren, insgeheim aber auch, um endlich eine Laufbahn als Torjäger einzuschlagen. Mehr noch als das, ich wollte sie erzwingen. In Berlin ging das nicht, da kannten mich alle – und meine fußballerischen Fähigkeiten. Angekommen in der südbadischen Prärie, beim glorreichen SC Eichstetten, behauptete ich – gelernter Mittelfeldwusler, aufgerundet sieben Toren in 263 Jugendspielen – schon immer etatmäßiger Stürmer gewesen zu sein. Ein Knipser, technisch herausragend, trickreich und listig, eine Art Alexander Iaschwili, nur in gnadenlos effizient. War ich natürlich nicht.
Was sich tiefenpsychologisch hinter dieser Hochstapelei verbarg, war die Sehnsucht danach, regelmäßig Bewunderung und Zuneigung entgegengebracht zu bekommen. Denn der schönste Moment für jeden Fußballer, jene Aktion, die uns in der Woche danach selig durch den Alltag fliegen lässt, ist nun mal das selbsterzielte Tor. Ein Schuss, die Gewissheit, dass der sitzen wird, die Wärme in der Brust, wenn er dann sitzt, ein schon Sekunden später unmöglich zu rekonstruierender Laufweg, Umarmungen, Gebrüll, das Gefühl, in der verbleibenden Spielzeit unbesiegbar zu sein. Mehr geht nicht. Außerdem ist es ja so: Brave Arbeitsbienen im Mittelfeld tauchen am Montag nicht namentlich in der Lokalzeitung auf. Nie. Deshalb wollen ja alle knipsen.
Bloß ist nicht jeder von uns zum Torjäger geboren, die meisten haben allenfalls einen mittelmäßigen Riecher und stehen nicht immer richtig, sondern überschlagen nur in etwa jedem 31. Spiel. So wie ich. Weshalb ich alsbald wieder dorthin beordert wurde, wo ich hingehöre, etwa fünfzig Meter entfernt von beiden Toren, in den umkämpften und erbarmungslosen Mittelkreis einer holprigen und schlecht gemähten Amateursportanlage.
Es dauerte einige Monate, bis ich das nicht mehr als Problem begriff. Denn das Großartige am Fußball sind eben nicht nur die Tore, sondern auch die kleinen Momente. Die, die niemand so richtig registriert. Die man ganz für sich alleine hat. Und die sich am Ende doch für alle summieren zu einer Art hingeworfener Bilanz: Gutes Spiel, Junge!
Wir lassen diese Momente am späten Sonntagabend oft noch ein letztes Mal Revue passieren, bevor wir sie irgendwo im Kopf verstauen, Platz schaffen für nächsten Sonntag und dann zufrieden neben einem leeren Pizzakarton auf der Couch einpennen. Was war das für ein butterweicher Flugball, was für eine saubere Brustannahme vor dem 1:0. Und dann war da der gut angebrachte Spruch zum gegnerischen Trainer und der Pass vor dem Pass, der der entscheidende gewesen wäre, wenn vorne mal einer richtig stehen würde. Und, vor allem, der Tunnel, den man dem Gegenspieler verpasst hat, ganz sauber durch, ohne Beinberührung, raffiniert und sinnvoll, keine prollige Zirkusnummer, nach der der Trainer dich zurecht anbrüllt, dass du die Scheiße bleibenlassen sollst. All das macht glücklich. Und zufrieden. Oder man ist eher der Torjägertyp.