Früher war der Star die Mannschaft. Jetzt muss der Einzelne die Rolle ausfüllen. Rückblick auf eine Saison der Celebrities.
Andy Warhol hat den Abstieg des HSV kommen sehen. Zumindest den Abstieg in die Gosse des Boulevards. Er wusste, dass das Banale das Heilige irgendwann auch in Hamburg verdrängt. Dass nicht mehr die Institution im Vordergrund steht, sondern der einzelne Spieler und sein Privatleben. Und dass, wer die „Bild“ liest, denken muss: Dieser einst so stolze Klub ist nur noch die Kulisse für eine Schmierenkomödie. In der Hauptrolle: Rafael van der Vaart. Der Celebrity der Saison.
In Zukunft werde jeder, sagte Warhol bereits 1968, für 15 Minuten berühmt sein. So ist es gekommen, wenn auch unter anderen Bedingungen: Berühmtheit hat nicht mehr viel mit Ruhm zu tun, sie basiert oftmals auf reiner Penetranz. Man muss nur lange genug seine Visage in die Kameras halten, dann kennt sie bald jedes Kind.
Wofür genau die so genannten Celebrities unserer Tage eigentlich berühmt – oder besser: bekannt – sind (außer dafür, dass sie es nun mal sind), weiß niemand so genau. Am wenigsten sie selbst, aber das ist Teil des Konzepts. Nicht mal schlechte Musik machen sie mehr. Van der Vaart kann Gerüchten zufolge immerhin Fußball spielen, bloß interessiert das bei den Revolverblättern keine Sau. Celebrities sind eine Marke ohne Kern. Eine Verpackung ohne Inhalt.
Balotellis Feuerwerk im heimischen Badezimmer
Doch immerhin: Was auf dieser oft leeren Verpackung zu lesen ist, ähnelt zuweilen einer Weissagung in der Tradition Warhols. Eine mysteriöse Intuition befähigt die Celebrities, blinden Sehern gleich, ebenfalls in die Zukunft zu blicken – oder wie es in ihrer Branche heißt: Trends zu setzen. Sie wissen heute schon, was uns morgen auf den Geist geht.
Paris Hilton erahnte die Ära der sich selbst fotografierenden Witzfiguren, Kim Kardashian sah voraus, dass der Hintern das Gehirn als wichtigstes Körperteil ablöst. Und Mario Balotelli, die Kim Kardashian des Fußballs, wusste als Erster, welchen Wandel sein Sport erleben wird: Dass der Einzelne aus dem Team heraustritt. Als Individualist in einer Mannschaftssportart. Als der, der scheinbar allein über Sieg und Niederlage entscheidet, den sie auf der Sänfte aus dem Stadion tragen oder aber mit Mistgabeln hinausjagen wie ein mittelalterlicher Lynchmob (was bei ihm wesentlich öfter der Fall ist). Eine bemerkenswerte Entwicklung in einer als postheroisch geltenden Gesellschaft, die sich nicht nur in England vollzieht, sondern nun auch in der deutschen Bundesliga.
Sie begann vor gut dreieinhalb Jahren mit einem dieser typischen Balotelli-Auftritte. In einem Spiel im Oktober 2011 – er hatte gerade einen Bekanntheitsschub erfahren, weil er ein Feuerwerk im heimischen Badezimmer gezündet hatte – zog er sich das Trikot hoch und gab den Blick frei auf eine Frage, die auf sein Unterhemd geflockt war: „Why always me?“ Warum wird immer über mich geredet? Und warum so schlecht? Eine kokette Frage, deren Antwort auf der Hand liegt: Wer es schafft, im Fußball – inmitten von kreuzbraven Musterschülern, denen von PR-Strategen das letzte bisschen Frechheit ausgetrieben wird – zum Celebrity zu werden, der kann sich der Schlagzeilen so sicher sein wie ein sprechendes Einhorn. Darum immer Balotelli. Wer sonst?
Die Fans wollen nur noch einen kämpfen sehen: den Celebrity
Vielleicht war es aber auch gar keine Frage, sondern ein Menetekel: Es markiert den Beginn des Zeitalters des Ichs im Fußball. Mit der für den deutschen Markt so typischen Verzögerung von drei Jahren ist es in der Spielzeit 2014/15 auch in der Bundesliga angebrochen, wo das Ich sich noch ein Weilchen hinter der Phrase „Der Star ist die Mannschaft“ und dem Pronomen „man“ versteckt hielt. Nun steht es im Fokus der Öffentlichkeit, als Heilsbringer wie als Sündenbock. Vorbei die Tage, da Fans Busse blockierten, ganze Mannschaften für eine Krise in Sippenhaft genommen und „Wir wollen euch kämpfen sehen!“ skandierten. Sie wollen nur noch einen kämpfen sehen – nämlich den, der im Verdacht steht, genau das schuldig zu bleiben: den Celebrity.
Der Mann, der hierzulande Mario Balotelli am ähnlichsten und damit die Kim Kardashian der Bundesliga sein dürfte, heißt Rafael van der Vaart. An der Seite seiner Partnerinnen, ebenfalls Celebrities von Beruf, ist der einstige Star des HSV zum C‑Promi verkommen, dessen Leistung weit hinter der Medienaufmerksamkeit zurückblieb, die ihm zu zuteil wurde, zum Lieferanten peinlich berührender Geschichtlein unterm Weihnachtsbaum. Von der Mannschaft grenzte er sich durch eine leichtfertig kassierte Sperre für das letzte Spiel endgültig ab. Wer mit der „Bild“ im Aufzug nach oben fahre, hat Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner einmal gesagt, der fahre auch mit ihr nach unten. Es scheint, als hätte van der Vaart den ganzen HSV hinein gezerrt – und wäre selbst in letzter Sekunde ausgestiegen.