Leroy Sané kommt, Thiago geht. Unser Kollege Christoph Biermann hat ihn als Letzter nicht getroffen. Und begibt sich aufs neue Feld des Hyper-Emo-Fußballjournalismus.
Juli 2020, meine Wohnung in Berlin. Ich sitze auf dem Sofa und verschenke ein breites Lächeln, doch Thiago lächelt nicht zurück. Noch haben wir beide miteinander kein Wort gewechselt, aber mein Gesicht verrät, dass ich einen Gedanken habe. Ich stehe auf und gehe zu meinem Plattenschrank. Was passt jetzt? Was würde Thiago hören? Miles Davis, weil er sein Rhythmusgefühl so gut zum Ausdruck bringt? Johann Sebastian Bach wegen seines Sinns für Form? Oder Chico Buarques „O Futebol“ wegen seiner brasilianischen Herkunft?
Ich entscheide mich für den Soundtrack von „Titanic“, weil die Gefühle doch zu groß sind. „Da gehst Du nun“, eröffne ich Thiago, während Celine Dion die Wände meiner Wohnung zum Beben bringt. Wie selbstverständlich erwidert er nicht: „Ich hatte ja versprochen, dass das letzte Interview, das ich in Deutschland gebe, Du bekommst.“ Dabei wäre das vor allem deshalb lustig, da wir uns eigentlich gar nicht kennen. Nun, ich kenne ihn nur aus dem Internet und aus dem Fernsehen. „Far across the distance, and spaces between us“, singt Celine Dion. Wie recht sie hat!
Frühjahr 2013. Pep Guardiola, den ich auch nicht persönlich kenne, sagt einen Satz, den ich mir gerne aufs Schlüsselbein tätowiert hätte, weil es so ein wunderbarer Schlüsselsatz ist: „Thiago oder nix!“ Er will ihn, ich will ihn auch und vielleicht sogar die Bayern. Ist aber egal wenn nicht, sie wollen halt Pep froh machen. Ich bin auch froh, habe aber so viele Fragen – und nicht nur ich. „Ich weiß, dass Ihr so viele Fragen an mich habt, dass wir dafür mindestens eine Stunde bräuchten“, sagte Thiago damals nicht, als er in München ankam, weil er noch gar kein Deutsch konnte.
Doch es gibt aber natürlich noch eine Wahrheit: sein Werk beim FC Bayern haben wir bei 11FREUNDE so genau verfolgt wie wenige andere. Schließlich sind wir das Magazin für Fußballkultur. Und ich legte mich früh fest: Er ist ein großer Künstler! Ein Maestro! Ein Dirigent mit den Füßen. Ein erster Geiger. Ein Gott des No-Look-Passes. Einer, der Räume erschafft, wo andere sie nur deuten. Hach! „You are safe in my heart, and my heart will go on and on“, singt Celine, wie ich sie nun nenne, weil meine Rührung so groß ist.
Für diese Meinung musste ich einiges an Gegenwind aushalten. Von all den Grassfressern und Banausen, die Fußball nur als Arbeit und nie als Kunst verstehen können. Die, wo sie Schönheit übersehen, nur „Siegermentalität“ rufen. Die an Thiago zweifeln. Und so formt sich sein Gedanke, München zu verlassen. Sogar in die regnerische Backsteinstadt Liverpool würde er vielleicht gehen. Aber gehen will er sicher.
Ich habe in 35 Jahren als Fußballreporter nichts Traurigeres erlebt. Das hätten sich alle ersparen können. Und so bin ich nun an dem Ort, an dem ich auch nicht das Abschieds-Interview mit Toni Kroos gemacht habe – auf meinem Sofa. Als ich aufstehe, habe ich das Gefühl, als wären wir nun erneut am Ende einer großen Bayern-Zeit. Dann ist der Titanic-Song vorbei und ich weine.
Dieser Text wäre ohne die butterweiche Vorlage des Erfinders des Hypes-Emo-Fußballjournalismus, Christian Falk, nicht möglich gewesen. Überhaupt nicht!