Die Pfiffe gegen Ilkay Gündogan zeigen: An deutsche Nationalspieler mit türkischen Wurzeln werden auch noch im Jahr 2018 andere Ansprüche gestellt.
Im September 2015 twitterte Lukas Podolski, damals Angestellter bei Galatasaray Istanbul, ein Foto, das ihn salutierend vor zwei türkischen Flaggen zeigte. Darunter stand auf Türkisch folgender Text: „Ich marschiere mit euch, für Flagge, für Vaterland, für die gefallenen Soldaten. Dem türkischen Volk mein Beileid von Herzen… #Vaterland #Volk #Türkei.“ Damals ging es um 16 türkische Soldaten, die bei Anschlägen der PKK ums Leben gekommen waren, im Herbst 2015 antwortete die türkische Armee mit Luftangriffen auf kurdische Ziele im Nordirak und tötete dabei nach eigenen Angaben über 2000 PKK-Kämpfer.
Im Herbst 2015 ließ der türkische Parteichef Recip Tayip Erdogan längst Journalisten einsperren, die er als unbequem erachtete. Schon damals bastelte er an der Umstrukturierung des türkischen Staates, schon damals waren Meinungsäußerungen für kritische Journalisten zur Gefahr geworden. Kurzum: Schon im Herbst 2015 war klar, dass Erdogan und die Türkei, die er im Bilde war zu formen, dem deutschen Verständnis eines Demokraten und einer Demokratie nicht entsprachen.
60 000 jubelnde Zuschauer statt Pfiffe
Weswegen Podolski für sein Solidaritäts-Foto, den Text und die Hashtags in der deutschen Öffentlichkeit Kritik einstecken musste. Ein paar Stunden später änderte Podolski den Text über dem Foto und sagte der „Bild“, dass es sich nicht um „eine politische Aktion“ gehandelt habe. Ein paar Tage später war die Sache versandet.
Podolskis Moral- und Wertevorstellungen waren in der Diskussion nicht in Frage gestellt worden. Der Vorwurf, er sei kein „überzeugter“ Deutscher, stand nicht im Raum. Die Forderung, ihn unehrenhaft aus der Nationalmannschaft zu entlassen, wurde nicht laut. Statt von Fans der deutschen Nationalmannschaft ausgepfiffen zu werden, verabschiedeten 60 000 Zuschauer im Dortmunder Stadion Podolski im März 2017 unter frenetischem Jubel.
Das Problem sind die türkischen Wurzeln
Bei Ilkay Gündogan wurde gepfiffen. Nachdem er am Freitag im Spiel gegen Saudi-Arabien eingewechselt worden war, jubelten Zuschauer, wenn Gündogan gefoult wurde. Weshalb sich ein Verdacht aufdrängt: Das Problem der pfeifenden Fans ist nicht die vermeintliche politische Unterstützung von Gündogan und Mesut Özil für Erdogan. Das Problem der Menschen, die am Freitag gepfiffen haben, sind die türkischen Wurzeln der beiden Spieler.
Zugegeben: Es hat eine größere Wucht, wenn Spieler mit türkischen Wurzeln den sich im Wahlkampf befindenden türkischen Präsidenten treffen, als wenn Lukas Podolski etwas hölzern versucht, der türkischen Bevölkerung sein Beileid kundzutun. Andererseits muss man sich gerade durch diese besondere Konstellation auch die besonderen Hintergründe der Spieler vor Augen führen.