Spätestens seit gestern sind wir uns sicher: Es muss diesen Gareth Bale zweimal geben. Einmal den lustlosen Dickkopf aus Madrid – und einmal den leidenschaftlichen Weltklassemann aus Wales.
Saßen Sie schon mal bei gefühlten 52 Grad Autoinnentemperatur (bitte Ruhe bewahren, da wurde nichts gegendert!) hinterm Lenkrad eines klapprigen Kleinwagens, klebten mit ihrem verschwitzen Rücken am Sitz, hatten Hunger, Durst und einen dringenden Termin gleichzeitig, aber um Sie herum bewegte sich einerseits nichts (Stau auf der Stadtautobahn) und andererseits genau das Falsche (Scheibenwischergeste eines anderen Verkehrsteilnehmers in Ihre Richtung, ignorantes Raser-Arschloch auf dem Standstreifen), während der Seitenbacher-Vogel im Radio zum 37. Mal „Seitenbacher“ sagte und ihr Auto penetrant piepste, weil es das nicht angeschnallte Paket auf dem Sitz neben Ihnen, das Sie vor dem eigentlichen Termin doch unbedingt noch zur Post bringen wollten, fälschlicherweise für einen nicht angeschnallten Beifahrer hielt? Ja? Oder zumindest so ähnlich?
Dann wissen Sie ja: Selbst in Ihnen – im Alltag ein zuvorkommendes und in sich ruhendes Wesen, freundlich, ausgeglichen, achtsam, sowohl liebe- als auch verständnisvoll – schlummert ein kleines Monster. Eine Version Ihrer Selbst, die Ihnen im Nachhinein Angst macht. Die sich in Extremsituationen von ihrer eigentlichen Persönlichkeit abspaltet, oder anders, die ihre eigentliche Persönlichkeit zurückdrängt und die Kontrolle übernimmt, die Sie gegen das Lenkrad boxen und den Scheibenwischer-Zeiger mit Schimpfwörter beleidigen lässt, für die Sie jedes Sportgericht der Welt lebenslang aus dem Verkehr ziehen würde. Die Sie, nachdem Sie wild drängelnd ausgeschert sind, in das ignorante Raser-Arschloch auf dem Standstreifen verwandelt. Und Ihnen, wenn Sie sich denn am nächsten Tag wieder beruhigt haben und wie gewohnt mit dem Trekkingrad statt mit dem Auto zur Arbeit fahren (das Paket sicher in der Fahrradtasche verstaut), unter ihrem TÜV geprüften Uvex-City-Helm zu denken gibt. War ich das wirklich? War das mein wirkliches Ich? Wer bin ich überhaupt?
Nun, dann können Sie sich vielleicht in Gareth Bale hineinversetzen. Der walisische Superstar fährt zwar (wahrscheinlich) nicht mit einem Trekkingrad zur Arbeit und zumindest wir haben auch noch nicht erlebt, dass er andere Autofahrer mit Flüchen überzogen hätte, die in Comic-Sprechblasen in Form von furchteinflößenden Totenköpfen und roten Ausrufezeichen abgebildet würden, aber: Auch von Gareth Bale gibt es ganz offensichtlich zwei Versionen. Die lustlose, zum Internet-Witzchen verkommene aus Madrid (böse). Und die, die gestern die walisische Nationalmannschaft mit einer herzergreifenden Leistung zum Sieg gegen Österreich geführt hat (gut).
Und wer ihn danach im Kreis stehen sah, inmitten seiner Mitspieler, die nicht Toni Kroos oder Karim Benzema heißen, sondern Joe Allen oder Connor Roberts, der sah, mit welcher Intensität und Lust und Motivation er auf sie einredete, der konnte nur zu einem Schluss kommen: Der walisische Länderspiel-Bale, der den Kontinent auch schon bei den EM-Turnieren 2016 oder im Sommer 2021 begeistert hatte, das ist schon ein Pfundskerl.
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Über den Abstieg des Madrider Superstar-Bale ist viel geschrieben und berichtet worden. Bei Real machte er in den vergangenen Jahren vor allem Schlagzeilen, wenn er nicht spielte, der „Wales. Golf. Madrid. In that Order“-Spruch könnte in that Order im Duden stehen, so alltäglich ist er geworden. Gareth Bale, der einst teuerste Profi der Welt, der mit Real Madrid viermal die Champions League gewonnen und mit seiner Dynamik und Schussgewalt Finalspiele entschieden hatte, er spielte plötzlich lieber Golf als Fußball. Was seinen Ruf derart ruinierte, dass sich in den vergangenen Jahren nicht mal mehr ein Scheich fand, der Bale allein des Namens wegen kaufen wollte. Gareth Bale, der Superstar, er ließ sich im Sommer 2020 verleihen.
Doch selbst bei Tottenham, wo sein Stern einst aufgegangen war, funktionierte es mit dem Fußball nur bedingt. 16 Tore in 34 Spielen lesen sich zwar toll, allerdings reichte es in der Premier League zu gerade mal zehn Einsätzen in der Startelf in der gesamten Saison 2020/2021. Sein denkwürdigster Auftritt: Der Tweet eines Mannes, der ihn bei einem FA-Cup-Spiel live aus dem Schlafzimmer beobachtete. Folgerichtig entschied sich Tottenham im Sommer 2021 gegen eine Verpflichtung des Stürmers – Bale kehrte also widerwillig nach Madrid zurück. Wo er es in dieser Spielzeit bislang (zugegebenermaßen auch verletzungsbedingt) auf genau fünf Einsätze gebracht hat. Bale, um den es zeitweilig Gerüchte gab, dass er 2021, nach einer wiederum starken EM mit Wales, seine Karriere beenden würde, versauerte zuletzt nicht nur, er geriet außerhalb Madrids (wo man sich über den „Schmarotzer“ aufregt) und von Wales (wo man ihn nach wie vor liebt) in Vergessenheit. Und dann das.
Erling Haaland stammt aus der Kleinstadt Bryne in Norwegen. Dort spielte er in einer Mannschaft, in der Freundschaft wichtiger als Siegen war und gerade deshalb Sieger hervorbrachte.
Gegen Österreich war Bale überall zu finden, als Mann für die ruhenden Bälle jagte er einen Freistoß auf unwiderstehliche Weise ins Kreuzeck, als Strafraumstürmer sorgte er aus der Drehung für die 2:0‑Vorentscheidung. Er spielte elegant und kraftvoll, voller Überzeugung führte er eine Mannschaft an, die realistische Chancen hat, im Winter (lol) zum ersten Mal seit 1958 an einer WM-Endrunde teilzunehmen. Und wo der Madrider-Diven-Wale nach einem Rückschlag wie dem 1:2‑Anschlusstreffer durch Marcel Sabitzer womöglich beleidigt vom Platz stolziert und in das erstbeste Golfcar gestiegen wäre, blieb der Wales-Bale auf dem Platz und spielte einfach weiter. Und das richtig gut.
Was uns wieder zurück zum Anfang führt, zur Sache mit den zwei Persönlichkeiten. Warum zeigt Bale nur bei Wales, dass er noch immer zu den besten der Welt gehört? Wales Liebe ist? Oder weil sie ihn dort auch anders behandeln, lieb zu ihm sind und verständnisvoll, weil ihm dort niemand mit Scheibenwischergesten schmäht, weil es in Wales selbst selten 52 Grad warm wird? Wir können nur spekulieren. Oder die kommenden Länderspiele der Waliser genießen. Denn da bekommen wir den guten Bale zu Gesicht, den, der uns begeistert mit seiner fußballerischen Qualität und seiner Persönlichkeit, der sich ohne Allüren den Hintern aufreißt für seine Mannschaft. Wer weiß, wann er sich wieder verwandelt?
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