Wir bauen unsere Seite für dich um. Klicke hier für mehr Informationen.

Zu den unge­klärten Fragen der Mensch­heit gehört, wie die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­kultur aus­sähe, wenn Twitter ein archai­sches Instru­ment wäre. Gerade im Sport, der Sei­fen­oper von Helden in kurzen Hosen. Hach, Träum­chen. Oder auch: Alp­träum­chen. 1999 etwa, als dieses Fuß­ball­spiel mit Betei­li­gung von Mün­chen und Man­chester in Bar­ce­lona statt­fand, wäre bei Twitter garan­tiert ein mit #Mut­ter­Al­ler­Nie­der­lagen fran­kiertes Rund­schreiben gewa­bert.
 
Die Ver­hash­ta­gi­sie­rung des Pla­neten führt dazu, dass alles diese dümm­liche Raute (ver)tragen soll, um gesell­schafts­re­le­vant zu sein oder ernst genommen zu werden. Das nervt. Ori­gi­nell allein die Vor­stel­lung einer Spe­zi­fi­ka­tion des Hash­tags, wie 2001, mit baye­ri­schem Lokal­ko­lorit. Ein Renner in den Twitter-Trends hätte er sein können, der #Wadl­beißer, ja gut äh, sicher­lich.
 
Also erhebt Franz Becken­bauer an jenem Madrid-Abend sein Glas und seine Stimme. Früher wäre eine Ampu­ta­tion nötig gewesen“, mül­ler­wohl­fahrtet der Kaiser in salopper Fern­dia­gnose, die als Ver­nei­gung vor der medi­zi­ni­schen Abtei­lung des FC Bayern zu inter­pre­tieren ist. Gio­vane Elber und Jens Jere­mies, beide soeben am Knie ope­riert, stehen nicht nur auf dem Platz, als die Münchner bei Real antreten: Sie sind ent­schei­dend. Elber gelingt das 1:0, was ihn zum Knie-Kuss ani­miert, und Jere­mies fie­selt, fräst, flext in herr­lichster #Wadl­beißer-Men­ta­lität durchs Mit­tel­feld.
 
Man kann das ver­ar­beiten, aber nicht ver­gessen“
 
Fände sich anläss­lich jenes Cham­pions-League-Halb­fi­nals jemand, der Twitter gründet, wäre Jere­mies kein Kan­didat auf raschen Bei­tritt. Auch 15 Jahre später ver­spürt der Sachse nicht den Drang, sich in 140 Zei­chen mit­zu­teilen, was wenig Wis­sens­ge­halt über Twitter und viel über Jere­mies ent­hält. Selbst­dar­stel­lung war seine Sache nie.
 
Bekun­dungen zur Bayern-Dar­bie­tung bei Atlé­tico (0:1) wurden folg­lich nicht ver­nommen, dabei wäre es span­nend zu erfahren, was Jere­mies von der schön­geis­tigen Ich-tue-dir-nichts-du-tust-mir-was-Hal­tung seines Posi­ti­ons­nach­fahren Thiago hielt. Und, natür­lich: Welche Wort­krea­tion er hinter die Raute ver­pflanzt hätte. Viel­leicht #Kunst­Statt­Kampf. Die sichere Vari­ante hieße #Road­T­oMilano, Bayern in Madrid 2016 und Bayern in Madrid 2001 eint bekannt­lich das Ziel, bloß der Weg weicht von­ein­ander ab.
 
2001 trai­niert Ottmar Hitz­feld eine Mann­schaft, die sich so prä­gend über Physis und Vor­satz defi­niert wie kein anderes Bayern-Team. Bar­ce­lona 1999 nagt am Ego, aber just dadurch ver­stärkt sich die Frus­tra­ti­ons­to­le­ranz, wie eine Horn­haut, die umso wuch­tiger nach­wächst, je stärker sie abge­schrubbt wird. Als Pio­niere der men­talen Kraft gelten Oliver Kahn und Stefan Effen­berg, zurecht natür­lich, doch dann gibt es Scholl und Sali­ha­midzic und Elber, und dann gibt es noch Jere­mies. Ich denke jeden Tag an diese Nie­der­lage“, grum­melt er, denn: Man kann das ver­ar­beiten, aber nicht ver­gessen.“
 
Keine Frage, dass er alles unter­nimmt, um die Scharte aus­zu­wetzen. Erster Ver­such im Jahr 2000, Halb­fi­nale gegen Real, Fehler beim 0:1, Eigentor zum 0:2, Schlüs­sel­bein­bruch im Rück­spiel, das Aus. Es ist ohnehin eine pein­volle Phase für den Gör­litzer, der – rein phä­no­ty­pisch – mit seiner Zot­tel­frisur und dem laxen Habitus („Sie können gerne eine Nach­richt hin­ter­lassen, aber ich rufe nicht zurück“) so gar nicht zu den Schicki-Micki-Bayern passen mag.

Als er den Zustand der Natio­nal­mann­schaft als jäm­mer­lich“ abkan­zelt und, nette Pointe, ein wei­teres Eigentor pro­du­ziert, diesmal gegen 1860, zischt der Bild“-Bumerang zurück: Jens Jäm­mer­lich!“
 
Das beste Spiel seiner Kar­riere
 
Jere­mies, ein gif­tiger Defen­siv­kno­chen, dient sich bei Motor Gör­litz hoch zu Dynamo Dresden und den Münchner Löwen, 1998 wech­selt er den Stadt­be­zirk. Die #Mut­ter­Al­ler­Nie­der­lagen besie­gelt das Ende seiner Debüt­saison, anschlie­ßend müht er sich, ins Trikot des abge­wan­derten Lothar Mat­thäus (39) zu schlüpfen. 2001 lobt Manager Uli Hoeneß die Ent­wick­lung, und Hitz­feld erkennt eine prof­fi­hafte Ein­stel­lung: Jens ist ein Leader. Seine Anwe­sen­heit gibt dem einen oder anderen einen Schub.“
 
Wer oder was aber ver­leiht Jere­mies den Schub, als das Knie ächzt? Viele Leute haben mit­ge­holfen, die Phy­sio­the­ra­peuten, die Ärzte. Bei denen muss man sich bedanken“, sagt er in Madrid, nach Becken­bauers Bonmot, am 1. Mai. Es ist ja wirk­lich eine heroi­sche Leis­tung: Am 19. April werden ihm abge­split­terte Knor­pel­teile aus dem Gelenk ent­fernt, nach der Arthro­skopie schuftet er täg­lich bis zu zwölf Stunden für den Stich­termin in zwölf Tagen. Es klappt. Ein kleines Wunder“, staunt Hitz­feld.


 
Dann das Rück­spiel am 9. Mai, die ver­mut­lich beste Jere­mies-Partie über­haupt. 70 Minuten hält er durch, anstelle des gesperrten Effen­berg mit Jung­spund Owen Har­gre­aves an der Seite. Mat­thäus‘ Trikot zu groß? Pah! Jere­mies mimt die Licht­ma­schine, ein Dynamo ohne Dresden, er räumt ab, leitet ein, beru­higt, beschleu­nigt – und trifft. Und welch Bau­ern­trick die madri­le­ni­schen Super­stars in ihrem eigenen Ber­mu­da­dreieck ver­schlu­cken lässt!

Jere­mies stiehlt sich bei einem Frei­stoß davon, kurze Ablage, direkter Flach­schuss, mit rechts nach links aus 20 Metern, und Iker Cas­illas schimpft wie ein ver­wöhnter Günst­ling, dem sie das Desi­gner-Hemd befleckt haben. TV-Kom­men­tator Fritz von Thurn und Taxis aber jubi­liert: Sen­sa­tio­nelles Tor von Jere­mies! Das wird er ein Leben nicht ver­gessen…“