Drei Tage lang gehen Engländer, Russen und Franzosen in Marseille aufeinander los. Mittendrin: unser Redakteur.
So schnell die Gewalt explodiert, so schnell geht sie auch wieder vorbei. Wie kleine Wirbelstürme zieht sie durch die Straßen, es ist nicht ganz klar, wer nun wen angegriffen hat. Die potentiellen Feindbilder waren schon im Vorfeld vielfältig. Engländer gegen Russen, Engländer und Russen gemeinsam gegen die Muslime der Stadt (das „Schwein von Marseille“, James Shayler, ein bekannter englischer Hooligan, hatte dazu aufgerufen, durfte aber letztlich nicht ausreisen), einheimische Ultras gegen die Gäste-Fans. OM hat gleich eine ganze Handvoll Ultra-Gruppen, einige hatten noch vor dem Turnier angekündigt, Jagd auf die Engländer zu machen, auch als Rache für die Krawalle bei der WM 1998, als ebenfalls die Briten in Marseille im Zentrum der Gewalt standen.
Bis zum frühen Abend bleibt es wieder friedlich, bis es dann erneut eskaliert. Wieder fliegen Flaschen und Bengalos, schlagen die Gruppen aufeinander ein. Als es sich eine Stunde später beruhigt hat, sieht der Platz am Alten Hafen aus wie ein Sperrgebiet. Überall Polizisten, in Uniform und Zivil, Abendsonne und Blaulicht mischen sich zu einem kuriosen Farbenspiel. Ein Sprecher der Polizei sagt: „Es waren wieder Russen, die auf Engländer los sind. Die Lage war aber schnell wieder unter Kontrolle.“ Ja, man habe mit der Gewalt gerechnet, sagt der Mann, entsprechend vorbereitet sei man gewesen. Und doch bleibt der Eindruck bestehen, dass die französischen Verantwortlichen ihre Energie eher in die Bekämpfung der bereits entstandenen Gewalt investieren, als in die Prävention.
Angespannte Atmosphäre am alten Hafen
Vielleicht hat das auch mit Marseille zu tun, dieser aufregenden Multi-Kulti-Stadt, in der der Gewalt mit einer Lässigkeit begegnet wird, die man sich in einer ähnlich großen deutschen Stadt nicht vorstellen könnte. Später beim Spiel berichtet Jean, ein Barkeeper am Alten Hafen, dass man bereits am frühen Abend den Laden geschlossen und verbarrikadiert habe. „Aber das ist Marseille und das ist Fußball“, sagt er und lacht.
Nach dem Spiel, bei dem es im Stadion erneut zu Auseinandersetzungen zwischen Russen und Engländern kommt, herrscht am Alten Hafen eine angespannte Atmosphäre. Die Polizei ist überall, nach und nach tauchen dann die potentielle Kontrahenten auf wie Boxer, die langsam auf den Ring zustapfen. Die einheimischen Jugendlichen scannen den Platz ab, erste Gruppen Engländer und Russen kommen vom Stadion zurück. Lange passiert nichts, dann, nach Mitternacht, setzt die Polizei wieder Tränengas ein und räumt den Platz. Warum genau ist zunächst nicht ersichtlich.
Hätte sich die Stadt besser auf die Fans vorbereiten müssen?
Am Sonntag ziehen die Russen und Engländer weiter. Zurück bleiben viele Fragen. Hätte sich die Stadt besser auf die Fans vorbereiten müssen? War die Gewalt einfach nicht zu verhindern, wenn sich zwei Fangruppen mit so gewaltbereiten und gewaltbekannten schwarzen Schafen in einer gewaltaffinen Stadt aufeinander treffen? Wie sehr wirkt das Vorgehen der Sicherheitskräfte als Brandbeschleuniger? Und vor allem: war das nun der Anfang oder der Höhepunkt der Randale in Frankreich? Aus Nizza kommen schon die nächsten besorgniserregenden Meldungen: Dort gab es Auseinandersetzungen zwischen einheimischen Ultras und Fans aus Nordirland.