An René Adler kommt nie­mand vorbei. Nicht Wla­dimir Bys­trow, der in 15. Minute vor ihm auf­taucht und dessen Schuss der Tor­wart mit den Füßen abwehrt. Nicht Yuri Zhirkov, in der 27. Minute einen Frei­stoß aufs Tor zir­kelt, den der Keeper mit der linken Hand über die Latte lenkt. Sie schei­tern alle an ihm, Alex­ander Kerz­hakov, Kon­stantin Zyryanov, Igor Den­isov, schließ­lich auch ihr Super­star Andrei Arshavin aus nächster Nähe. Es läuft das WM-Qua­li­fi­ka­ti­ons­spiel gegen Russ­land. 10. Oktober 2009, Moskau, Lusch­niki-Sta­dion. René Adler ist an diesem Abend unbe­siegbar.


Schon wäh­rend des Spiels über­schlagen sich die Kom­men­ta­toren mit Jubel­hymnen, sie werden von Experten, Semi-Experten und Frei­zeit-Experten nach dem 1:0‑Sieg der DFB-Elf wei­ter­ge­sungen. Alles, weil man wenige Monate vor der WM in Süd­afrika nach nichts mehr dürstet als nach einer festen Nummer eins im deut­schen Tor. ZDF-Kom­men­tator Bela Rethy stam­melt: Mann, Mann, Mann, Adler!“ Olli Kahn fährt sich durchs Gesicht und nickt. Franz Becken­bauer rückt seine Brille zurecht und lächelt. Einen Tag später nennt die Bild“ ihn Super-Adler“ und fragt: Ist er jetzt end­gültig die Nummer 1?“

Spä­tes­tens an jenem Abend hatten sie den jungen Tor­mann in eine Art Super­helden-Sphäre kata­pul­tiert. René Adler war über Nacht größer als Jens Leh­mann, größer als Andreas Köpke, größer als Bodo Ill­gner und bei­nahe so groß wie Oliver Kahn geworden. Wer waren Robert Enke? Manuel Neuer? Tim Wiese?

Tat­säch­lich, jen­seits aller Hys­terie, war es das beste Spiel, das René Adler bis heute bestritten hat. Im Trikot der DFB-Elf war es indes eines der letzten. Es folgten ein wei­teres Qua­li­fi­ka­ti­ons­spiel gegen Finn­land und zwei Freund­schafts­spiele gegen Schweden und Argen­ti­nien. Heute ist Adler Rekon­va­les­zent in Lever­kusen. Einer, der nach der Ver­pflich­tung eines jün­geren, eines ver­meint­lich noch bes­seren Tor­hü­ters, Bernd Leno, in der kom­menden Saison bei seinem Klub nicht mehr gebraucht wird. René Adler ist inner­halb zweier Jahre von Null auf Hun­dert geschossen – und wieder bei Null gelandet.

Rüdiger Voll­born: Ich habe den neuen Natio­nal­tor­wart gesehen“

Rück­blick. Sommer 2000. Rüdiger Voll­born besucht damals einen DFB-Sich­tungs­lehr­gang im Leipzig, er schaut nach einem neuen Tor­hüter für die B‑Junioren von Bayer Lever­kusen. Und er hat diesen Namen auf seinem Zettel: René Adler, 14 Jahre alt. An jenem Tag sieht er ihn spielen, parieren, agieren. Voll­born ist begeis­tert. Er hat eine Ein­ge­bung. Er packt seine Sachen und fährt heim zu seiner Frau, die ihn fragt, wie es gewesen sei. Voll­born ant­wortet: Ich habe den neuen Natio­nal­tor­wart gesehen.“ Und einen Tag später berichtet er seinen Vor­ge­setzten bei Bayer Lever­kusen: Das ist eine Gra­nate!“ Adler wech­selt in die Jugend des Werk­klubs – auch zur Ent­täu­schung vieler anderer Trainer. Schalkes Jugend­ko­or­di­nator Helmut Schulte echauf­fiert sich etwa über Voll­born, weil der für den DFB und für Bayer arbeitet. Schließ­lich hat Schulte eine Ver­pflich­tung von Adler fest ein­ge­plant, sieht sich aber letzt­end­lich durch Voll­borns Dop­pel­funk­tion im Nach­teil.

Für Adler ist das Gerede Neben­sache. Er findet in Bayers Tor­wart­trainer einen Mentor, ja, viel­leicht sogar einen Zieh­vater. Er zieht bei Rüdiger Voll­born und dessen Familie ein. Es ist der Sommer 2000. Der Vor­abend einer großen Kar­riere. Man ist sich sehr sicher.

Olaf Thon: Gegen Bayer Adler ver­loren“

Tat­säch­lich ver­läuft zunächst alles nach Plan. Über die Jugend­mann­schaften spielt sich René Adler hoch zu den Profis, wo er erst­mals am 25. Februar 2007 für den gesperrten Hans-Jörg Butt gegen Schalke 04 zum Ein­satz kommt. Es ist ein Debüt wie gemalt. Auf Schalke, dort, wo sie immer noch ein biss­chen nei­disch auf den Super-Tor­wart schauen, siegt Lever­kusen mit 1:0. Adler hütet sein Tor, als hätte er bereits 400 Spiele auf dem Buckel, und Schalkes Stürmer rennen wie manisch auf ihn zu. Lin­coln, Kuranyi, Hoog­land, Bajra­movic, 60.000 auf den Tri­bünen, Adler hat alle gegen sich. Doch der junge Mann fängt die Bälle, als pflücke er Äpfel vom Baum. Um sich dem Druck zu ent­ziehen, redet er wäh­rend des Spiels unun­ter­bro­chen mit seinen Mit­spie­lern und sich selbst. Ich wollte mir den Tun­nel­blick schaffen“, sagt er später. Olaf Thon sagt: Wir haben heute nicht gegen Bayer Lever­kusen, son­dern gegen Bayer Adler ver­loren.“

Und so geht es weiter. Adler ver­drängt Hans-Jörg Butt im Klub und Timo Hil­de­brand in der Natio­nalelf. Er zieht mit Bayer ins DFB-Pokal­fi­nale und wird 2008 als Ersatz­keeper Vize-Euro­pa­meister. In Nord­rhein-West­falen wählen sie ihn 2008 zum New­comer des Jahres“. Es hätte immer so weiter gehen können.


Dann kommt dieses Spiel gegen Russ­land. René Adler sichert der DFB-Elf die WM-Teil­nahme. Und er erlebt etwas, für das sogar der Begriff Hype zu klein scheint. Mit diesem Tor­wart kann alles gehen. Mit diesem Tor­wart kann Deutsch­land Welt­meister werden. Klatsch­ma­ga­zine bela­gern Vater und Mutter („Nach dem Abpfiff musste ich dann erst mal eine Rot­käpp­chen-Fla­sche auf­ma­chen“), die Bild“ ent­hüllt“ die Psy­cho­t­ricks unserer neuen Nummer 1“ und die Süd­deut­sche attes­tiert ihm das Zeug zum Kahn“. 

Dann kommt der Rip­pen­bruch im März 2010. René Adler holen die Geister der Ver­gan­gen­heit ein. Schon einmal, 2006, hatte er wegen eines nicht ver­heilten Rip­pen­bruchs mona­te­lang über Rücken­schmerzen und Atem­pro­bleme geklagt. Der junge Tor­hüter sei damals als Simu­lant hin­ge­stellt worden“, berichtet Voll­born. Ein Kar­rie­re­ende sei damals beschlossen gewesen. Auch aus diesem Grund ent­scheidet sich Adler im Früh­jahr 2010, auf die WM zu ver­zichten. Das war die schwie­rigste Ent­schei­dung meines Lebens“, sagt er.

Die DFB-Elf spielt in Süd­afrika begeis­ternden Fuß­ball, Adlers Ersatz Manuel Neuer ist zwar meist beschäf­ti­gungslos, doch die wenigen Auf­gaben, die er zu meis­tern hat, meis­tert er. Ein 24-Jäh­riger, der vor der WM fünf Län­der­spiele gemacht hat, spielt sich mit einer jungen Elf ins Halb­fi­nale des Tur­niers. Die Jubel­hymnen erklingen wieder. Wo ist René Adler?

Als blicke man zurück auf eine andere Ära

René Adler kämpft sich wieder heran. Doch dann, im Dezember 2010, treten erst­mals Knie­be­schwerden auf. Er spielt die Saison zu Ende, doch muss im Sommer beim Augs­burger Spe­zia­listen Ulrich Bönisch ope­riert werden. Es wird dege­ne­riertes Gewebe der Patel­la­sehne ent­fernt. Der 10. Oktober 2009, dieses Spiel in Moskau, ist zu dem Zeit­punkt nicht mal zwei Jahre her, doch es wirkt, als blicke man zurück auf eine andere Ära. In ein Foto­album mit lauter ver­gilbten Bil­dern. Von einem Super­helden redet im Sommer 2011 jeden­falls nie­mand mehr. Von der Natio­nal­mann­schaft sowieso nicht. Manuel Neuer wech­selt für 22 Mil­lionen Euro zum FC Bayern, und Bayer Lever­kusen ver­pflichtet den 19-jäh­rigen Bernd Leno vom VfB Stutt­gart auf Leih­basis. Der neue junge Tor­hüter hält gran­dios, wieder so ein Talent, dem sie – viel­leicht zu Recht, viel­leicht vor­schnell – das Präfix Super vor­stellen. Wo ist René Adler? Selten zuvor war der Fuß­ball so schnell wie im Fall des Lever­ku­sener Kee­pers. 

Heute hält er sich im Kraft- und Reha-Bereich im dritten Stock der BayA­rena auf. Hier bereitet er sich auf sein Come­back vor. Ob er das bei Bayer Lever­kusen feiern kann, ist mehr als frag­lich. Bernd Leno unter­schrieb vor­ges­tern einen Fünf­ein­halb-Jahres-Ver­trag bis zum 30. Juni 2017. Im Raum steht eine Trans­fer­summe von 7,5 Mil­lionen Euro, damit wäre Leno der zweit­teu­erste Tor­hüter-Transfer aller Zeiten inner­halb Deutsch­lands. Er hat bis dato 13 Bun­des­li­ga­spiele bestritten.

Kein One-Hit Wonder ist, nicht mal ein 34-Hit-Wonder

Bayers Sport­di­rektor Rudi Völler hält einen Ver­bleib von Adler auch wegen dessen Gehalts­for­de­rungen für unwahr­schein­lich“. Es scheint dieser Tage, als rede man schon lange nicht mehr mit- son­dern vor­nehm­lich über­ein­ander. Adler hat es zum Bei­spiel nicht gefallen, dass jene angeb­li­chen Gehalts­for­de­rungen (30 Mil­lionen Euro Gehalt für einen Fünf­jahres-Ver­trag) publik wurden. Der Klub indes gibt sich genervt von der Hin­hal­te­taktik des Tor­warts. Das Gro­teske dieser Posse: Jeder im Verein weiß, dass René Adler kein One-Hit Wonder ist, nicht mal ein 34-Spiele-Wonder. Dass dieses Spiel gegen Russ­land und etliche anderen gran­diosen Liga‑, Pokal- und Euro­pa­po­kal­spiele kein Zufall waren. Nur fehlt die Geduld, um auf den nächsten Hit zu warten. 

Es pas­siert, was immer pas­siert: Andere Ver­eine treten auf den Plan. Schalke 04 galt vor kurzem als mög­li­cher neuer Arbeit­geber. Nur dort macht der junge Lars Unner­stall gerade gute Arbeit. Auch wurde Adler mit Wolfs­burg in Ver­bin­dung gebracht. Aller­dings steht Diego Benaglio wieder sicherer zwi­schen den Pfosten als noch in der ver­gan­genen Saison.

Auf seiner offi­zi­ellen Face­book-Seite prä­sen­tiert sich René Adler in einem Roll­kra­gen­foto und mit ent­schlos­senem Blick. Auf dem schwarzen Unter­grund prangt eine sil­berne 1“. Allein, es scheint momentan kein Platz in der Bun­des­liga als 1“ zu geben. Natür­lich kann sich das in drei, vier oder acht Monaten wieder ändern. Der Fuß­ball ist schnell. Manchmal zu schnell. René Adler weiß das nur zu gut.