Die Ukraine ist im EM-Viertelfinale gegen England krasser Außenseiter. Angeführt wird sie von Oleksandr Zinchenko, der beim Champions-League-Finalisten Manchester City eine tragende Rolle spielt und über den dennoch kaum jemand spricht. Warum eigentlich?
Oleksandr Zinchenko legt den rechten Zeigefinger auf seine Lippen, rennt in Richtung der ukrainischen Bank, nimmt den Finger wieder runter und schreit ungehemmt drauf los. Er schreit und schreit, so als wolle er sicherstellen, dass jeder ihn auch wirklich hört und sieht. Im Hampden Park in Glasgow läuft die 27. Minute und der Spieler von Manchester City hat die Ukraine sogerade im EM-Achtelfinale gegen Schweden mit einer fulminanten Direktabnahme in Führung geschossen.
Zinchenko geht voran. Der Außenseiter aus der Ukraine ist angewiesen auf diesen Mann, der in der Premier League und Champions League regelmäßig Weltklassespielern wie Kevin de Bruyne oder Raheem Sterling zuarbeitet, bei der Nationalmannschaft als Gestalter aber die Fähigkeiten von begabten Kickern wie dem Ex-Dortmunder Andriy Yarmolenko mit denen einiger internationaler No Names zusammenführen soll. Der dreimalige englische Meister ist der wichtigste Spieler des Teams, dennoch wird er nur selten in einem Atemzug mit den anderen Stars der EM genannt.
Er scheint nun aber angekommen zu sein in dieser Europameisterschaft, die für Zinchenko bis dato unglücklich verlief. Anders als Pep Guardiola setzt Nationaltrainer Andriy Schevchenko den Linksfuß gerne im Mittelfeld ein, so auch in der Gruppenphase der EM. Dort wirkt Zinchenko gegen die Niederlande, Nordmazedonien und Österreich oft abgekapselt vom Spiel der Ukrainer. Die Fähigkeit des 24-Jährigen, das Spiel vom Flügel aus als eine Mischung aus Spielmacher und Schienenspieler zu beeinflussen, geht ihm abhanden. „Leider absolviere ich gerade nicht meine besten Spiele im Trikot der Nationalmannschaft. Körperlich geht es mir gut, es ist eher eine mentale Frage. Ich versuche zu verstehen, wo meine Probleme liegen“, sagte Zinchenko vor dem Achtelfinale.
Vor dem Achtelfinale stellt Schevchenko auf eine Fünferkette um und zieht Zinchenko auf die Position des Linksverteidigers. Der Kniff sitzt: Neben dem Treffer zum 1:0 bereitet er Sekunden vor Schluss das entscheidende 2:1 mit einer Flanke der Marke butterweich vor, die Ukraine steht erstmals in einem EM-Viertelfinale. Auch dann wird sie klarer Außenseiter gegen die Engländer sein, aber angeführt von einem Spieler, der mittlerweile auf allerhöchstem Niveau angekommen ist, über den aber dennoch nur wenig bekannt ist. Ein Umstand, der auf den ungewöhnlichen Werdegang des Ukrainers zurückzuführen ist.
Zinchenko wird 1996 in der Kleinstadt Radomyschl geboren. Es gibt Bilder des Ortes, die eine kleine Burg aus hellbraunem Backstein und das Ortseingangsschild zeigen, vielmehr ist nicht zu sehen von der 15.000 Einwohnerstadt. Der junge Oleksandr behauptet sich fußballerisch schnell gegen deutlich ältere Jungs, das weckt Interesse. Er zieht nach Tschornomorsk, eine Küstenstand am Schwarzen Meer, in der Sandstrand auf Industrie trifft, die an der einen Ecke nach Urlaub und an der anderen nach Plattenbautristesse aussieht. Der Trainer Viktor Karpenko nimmt Zinchenko unter seine Fittiche. Später heiratet Karpenko Zinchenkos Mutter Irina. „Er hat eine sehr wichtige Rolle in meiner Entwicklung als Fußballer gespielt“, sagt Zinchenko.
2010 landet er beim ukrainischen Topklub Schachtar Donezk, dessen U19-Mannschaft er als 16-Jähriger bereits als Kapitän anführt. Viele internationale Klubs beobachten das junge Talent intensiv. Aber: Der Sprung zu den Profis bleibt ihm zunächst verwehrt, bei Schachtar wollen sie ihn behutsam aufbauen und dennoch langfristig an sich binden. Eine Verlängerung des bestehenden Vertrags lehnt Zinchenko daraufhin ab und ist fortan außen vor: „Vier Monate lang bin ich jedes Training nur um den Platz gerannt. Ich spielte nicht. Und war vom Team komplett abgekoppelt“, zitiert ihn die Sportschau.
Als sich die politische und militärische Situation in der Donbass-Region 2014 verschärft, schreibt Oleksandrs Mutter Irina einen Brief an Schachtar und informiert den Klub, dass die Familie die Region verlassen werde. Mutter, Stiefvater und Sohn fliehen, kommen in Moskau unter und wohnen fortan in einer 16 Quadratmeter kleinen Garage seines Onkels, in sicherer Distanz zu den politischen Unruhen.
Für Zinchenko zieht die Flucht aber sportliche Konsequenzen nach sich. Er trainiert kurz darauf bereits Rubin Kasan mit, doch es kommt kein Vertrag zustande, da Schachtar darauf pocht, dass das Arbeitsverhältnis in Donezk noch Bestand haben würde. Aus Angst vor einem Rechtsstreit zieht Kasan zurück und Zinchenko trainiert in der Folge auf den Bolzplätzen Moskaus, spielt hier und da bei Amateurklubs mit, um sich fitzuhalten. Er trainiert mitunter dreimal am Tag bei Wind und Wetter, oftmals allein, ohne absehen zu können, ob oder wann es auf Grund der verzwickten Rechtslage weitergehen könnte mit der Profikarriere. Zinchenko ist in dieser Zeit von der Bildfläche des Fußballs verschwunden, sein Talent droht in Vergessenheit zu geraten.
Rund ein halbes Jahr später unterschreibt er beim FK Ufa, einem kleinen Klub im Osten Russlands, fußballerisches Niemandsland, aber immerhin ein Neuanfang. Schachtar fordert rund 8000 Euro Entschädigung von Zinchenko und prangert vor dem CAS an, dass dessen Familie den Krieg als Vorwand genutzt habe, um den Klub nach den gescheiterten Gesprächen bezüglich einer Verlängerung verlassen zu können. Die Forderung nach einer viermonatigen Spielsperre lehnt der CAS ab.
Schnell spielt er sich in die Startelf des FK Ufa, mal als Verteidiger und mal im Mittelfeld, debütiert mit 19 Jahren für die A‑Nationalmannschaft der Ukraine und lernt nebenbei aus Eigenantrieb Englisch. Er nimmt Unterricht beim damaligen Mitspieler Emmanuel Frimpong. „Wir hatten vereinbart, dass er mich für die Stunden bezahlen würde, wenn er den Klub verlässt. Normalerweise nehme ich 2000 Euro pro Stunde, für ihn waren es nur 1000. Das Geld schuldet er mir noch“, erzählt Frimpong später sport24.ru. Es wirkt fast, als hätte Zinchenko geahnt, dass er die Sprachkenntnisse schon bald brauchen könnte. 2016 verpflichtet Manchester City den jungen Spieler für zwei Millionen Euro.
Es ist ein Transfer, der für keinerlei Aufsehen sorgt. Zu klein ist dafür die Summe, zu unbekannt der Spieler. Für den Klub ist es eine minimale Investition, für Zinchenko verändert der Wechsel alles. Zwei Jahre nach der Flucht nach Moskau, nach der Ungewissheit und etlichen Trainingseinheiten auf Betonplätzen, ist er plötzlich Teil des glitzernden Fußballgeschäfts. „Ich schüttelte Peps Hand und konnte kaum glauben, dass das wirklich passiert. Als er mich willkommen hieß, fühlte sich das an wie im Traum“, sagt Zinchenko fünf Jahre später in einem vereinseigenen Interview.
Bei City fliegt er zunächst unter dem Radar. Er wird zur PSV Eindhoven ausgeliehen, dort pendelt er zwischen Profi- und Reserveteam. „Wir hätten ihn auch ein weiteres Mal ausgeliehen, aber das wollte er nicht. Er wollte sich unbedingt hier in die Mannschaft kämpfen. Das ist viel wert“, sagt Pep Guardiola über Zinchenko, der sein Talent mit sehr viel harter Arbeit paart: „Er skizziert Änderungen in der Taktik und Spielzüge, die im Training eingeübt wurde. Er notiert das alles und erzählt es mir. Wir haben einen großen Ordner zuhause, in dem alles aufgeschrieben ist“, sagt seine Frau Vlada Sedan.
Nach und nach hat sich Zinchenko zu einer festen Größe auf der linken Seite der Citizens entwickelt. Bis heute wartet er auf sein erstes Tor in der Premier League, auch in der Champions League ist er noch ohne Treffer. Inmitten des Offensivfeuerwerks, das City häufig abbrennt, ist Zinchenko vor allem defensiv immens wichtig für Guardiola, der sagt: „Er spielt gegen Mo Salah, Marcus Rashford oder Angel di Maria, allesamt tolle Gegenspieler. Und er macht einfach keine Fehler.“ Auch darüber, dass Guardiola ihn aus dem Mittelfeld in die Verteidigung zog, habe er sich nie beschwert. Zinchenko sagt stattdessen: „Für diesen Klub würde ich sogar im Tor spielen.“
Eine Einstellung, die er offenbar auch bei der Nationalmannschaft verfolgt. Zinchenko spielt, wo Schevchenko ihn aufstellt. Die Selbstlosigkeit und Souveränität, mit der der Ukrainer die weniger glamourösen Aufgaben eines Fußballspiels erledigt, lassen ihn in der Außenwahrnehmung etwas untergehen. Die starke Leistung im EM-Achtelfinale gegen Schweden zeigte, dass Zinchenko auch auf diesem Level individuell zu den Besten gehört. Sollte er die Ukraine gegen den Favoriten aus England nun ins EM-Halbfinale führen, dürfte der Trubel um den einstigen Kriegsflüchtling größer werden.