Der FC Augsburg spielt seine zehnte Bundesliga-Saison – und gilt zum zehnten Mal als Abstiegskandidat. Dabei überrascht die Mannschaft auch in dieser Saison. Wie ist das, dauernd unterschätzt zu werden? Sportdirektor Stefan Reuter über Meilensteine und Kurioses.
Der Text erschien erstmals in 11FREUNDE #226. Das Heft gibt es bei uns im Shop.
Januar 2013
Reuter wird neuer Sportdirektor
Wenige Tage nach meinem Amtsantritt produzierte der Bayrische Rundfunk einen Beitrag über den FC Augsburg. Als sie in meinem Büro filmten, drehte einer den Schreibtischstuhl und sagte: „Das hier ist der Schleudersitz der Liga.“ Ich blickte ihn erstaunt an. Man muss dazu wissen, dass Andreas Rettig hier viele Jahre sehr gute Arbeit geleistet hatte, danach aber zwei für den Sport verantwortliche Geschäftsführer nur kurz im Amt waren. Druck habe ich trotzdem nicht verspürt. Das lag auch an dem unaufgeregten Umfeld. Walther Seinsch, der damalige Präsident, hat nie Luftschlösser gebaut. Er hat die Sache sehr realistisch gesehen und wollte den FCA unter den Top-25-Vereinen in Deutschland etablieren. Er sagte auch: „Herr Reuter, wir werden in den nächsten fünf Jahren definitiv zweimal absteigen.“ Nun, es kam anders.
Mai 2013
Klassenerhalt am letzten Spieltag
Die sportliche Situation im Winter 2012/13 war nicht gut. Einige würden sogar sagen: Sie war aussichtslos. Wir hatten nach 17 Spielen gerade mal neun Punkte geholt und standen auf Platz 17, punktgleich mit dem Tabellenletzten Greuther Fürth. Aber wir haben uns freigekämpft. Wir hatten direkt nach der Winterpause eine Initialzündung, als wir das erste Spiel 3:2 in Düsseldorf gewonnen haben. In der Mannschaft entstand ein neuer Glaube. Und danach begann eine irre Aufholjagd. Der Showdown fand am letzten Spieltag in Fürth statt. Wir haben eigentlich nur auf die Relegation gehofft, aber es kam noch besser. Alexander Manninger hielt einen Elfmeter, wir gewannen 3:1, Düsseldorf verlor zugleich in Hannover. Mit einem phantastischen Kraftakt hatten wir die Klasse gehalten.
Juni 2013
Halil Altintop kommt
Wir suchten einen erfahrenen Spieler, der zwischen den Linien agiert und immer anspielbar ist. Einen Offensivstürmer, der gut war für zehn Saisontore. So kamen wir auf Halil Altintop, den viele gar nicht mehr auf dem Schirm hatten. Er war schon über dreißig und hatte vorher in der Türkei für Trabzonspor gespielt. Weil es dort zu Unregelmäßigkeiten bei den Gehaltszahlungen gekommen war, durfte er ablösefrei wechseln. Wir hatten sofort ein gutes Gefühl bei ihm. Er wollte es in Deutschland vielen Leuten noch mal zeigen. Und das tat er auch. In seiner ersten Saison schoss er tatsächlich zehn Tore und wurde zum Dreh- und Angelpunkt unseres Spiels.
„In Europa kennt uns keine Sau!“
Januar 2014
Europa sei noch weit weg, sagt Reuter in seinem ersten 11 FREUNDE-Interview
Ich gebe zu, nach außen wollten wir den Ball immer flach halten. In jener Saison wurden wir Achter, nur einen Punkt hinter dem Siebten Mainz, der in der Europa-League-Qualifikation spielte. In der Spielzeit 2014/15 wurden wir Fünfter und zogen in die Europa League ein. So etwas mit Augsburg zu schaffen, war sensationell. Das war vergleichbar mit einem Titel mit dem FC Bayern oder dem BVB, würde ich sagen. In dieser Zeit entstand ein besonderer Geist und Zusammenhalt. Auch weil wir uns selbst nicht immer ganz ernst nahmen. Auf den Shirts, die wir nach dem letzten Spiel in Gladbach übergezogen haben, stand: „In Europa kennt uns keine Sau!“ Nach zwei Niederlagen zu Beginn meinten viele Experten, Augsburg habe in Europa wirklich nichts zu suchen. Die Umstellung mit vielen englischen Wochen ist nicht einfach für Mannschaften, die das nicht kennen. Es war eine enorme Anstrengung. Nicht nur die Spiele selbst, auch das Reisen. Wir kämpften uns dann zurück und gewannen am letzten Spieltag bei Partizan Belgrad. Wieder so ein intensives Spiel, denn Belgrad hätte auch noch weiterkommen können. Danach sagten alle: Toll wäre natürlich ein Los wie Liverpool. Und dann kam tatsächlich Liverpool. Nach einem 0:0 im Hinspiel schieden wir im Rückspiel aus, 0:1 durch einen Elfmeter. Manchmal denke ich noch an den Freistoß von Konstantinos Stafylidis kurz vor Schluss, der nur ein paar Millimeter am Tor vorbeizog. Wir waren sehr nah dran, Liverpool aus der Europa League zu schmeißen. Die FCA-Fans feierten noch lange nach dem Abpfiff. Wir haben uns in dieser Zeit eine Menge Respekt erspielt.
April 2014
Erster Sieg gegen den FC Bayern
Für die Fans war es natürlich sehr besonders, den FC Bayern zu schlagen. Das Siegtor schoss einer der Publikumslieblinge: Sascha Mölders. Er stand damals wie kaum ein anderer sinnbildlich für den FC Augsburg. Ein ehrlicher Kämpfer, ein leidenschaftlicher Stürmer, der total überraschte und immens wichtig war in der Saison 2012/13, als er mit zehn Toren in nur 24 Spielen einen großen Anteil am Klassenerhalt hatte.
Saison 2015/16
Transferrekorde und Transferglück
Abdul Rahman Baba kam im Sommer 2014 von Greuther Fürth zu uns (in der Presse wurden 2,5 Millionen Euro als Ablöse genannt, d. Red.). Ein wichtiger und talentierter Spieler, den wir für einige Jahre in Augsburg gesehen haben. Aber wenn du so ein Angebot bekommst, dann wartest du nicht mehr. Das war eine Größenordnung, die für den Spieler und für uns unglaublich war. Einige Leute haben sich danach über die Summe gewundert, ich fand sie aber angemessen. (Baba wechselte im Sommer 2015 für die Rekordsumme von 25 Millionen Euro zum FC Chelsea, d. Red.) Generell muss man sagen, dass wir nach Spielern schauen, die es woanders nicht schaffen oder zum Zuge kommen, aber großes Potential haben. Wie zum Beispiel Alfred Finnbogason, dem damals bei Real Sociedad kurz vor der Saison andere Stürmer vor die Nase gesetzt wurden. Er ist wirklich unglaublich, ein Spieler, der einen Riecher hat und abgezockt vor dem Tor ist.
„Wir haben oft ein oder zwei Augen zugedrückt“
Mai 2016
Markus Weinzierl verlässt Augsburg
Als ich im Winter 2012/13 zum FCA kam, habe ich mich mit Walther Seinsch oder Peter Bircks natürlich auch über den Trainer unterhalten. Beide sagten, Markus Weinzierl sei ein großes Talent, aber es fehlen die Punkte. Wir haben ausgemacht, dass ich mir im Trainingslager selbst einen Eindruck mache und dann entscheide. Und dort sah ich: Markus ist wirklich gut, alles was er machte, hatte Hand und Fuß. Also blieb er, und die Jahre danach gaben uns Recht. Wir hatten eine tolle gemeinsame Zeit. Umso trauriger war ich, als er seinen Abschied verkündete und nach Schalke ging.
Oktober 2018
Augsburg verliert in Dortmund 3:4
Wir haben in diesem Spiel zweimal geführt, 1:0 und 2:1, und in der 87. Minute haben wir das zwischenzeitliche 2:3 ausgeglichen – und dann kommt Paco Alcacer in der sechsten Minute der Nachspielzeit und schießt das 4:3. Es war ein tolles Spiel, es gab viel Lob, auch für uns. Aber es war schwierig, damit umzugehen, denn es war zugleich so bitter. Und nach Niederlagen darfst du einfach nicht zufrieden sein.
Januar 2019
Die „Bild“ titelt „Anarchie in Augsburg“
In einer Fußballmannschaft sind viele junge Burschen, und man kann auch mal über etwas hinwegsehen, wenn es im Rahmen bleibt. Bei Caiuby ist aber einiges vorgefallen über die Jahre, wir haben oft ein oder zwei Augen zugedrückt. (Einmal wurde er beim Schwarzfahren erwischt, als er auf der Heimreise vom Oktoberfest in München in der Bahn eingedöst und erst in Ulm wieder aufgewacht war, d. Red.). Diesmal aber war es zu viel. Er kam zu spät aus der Winterpause zurück (und wurde dann als Erstes in einer Diskothek gesehen, d. Red.). Dann haben wir uns von ihm getrennt. Klar, das brachte ein wenig Unruhe ins Team, aber Anarchie in Augsburg gab es nicht.
April 2019
Augsburgs höchster Bundesligasieg
Beim VfB musste nach dem Spiel unser ehemaliger Trainer Markus Weinzierl gehen. Das war nicht schön, aber ich habe nach dem 6:0 nicht daran gedacht, sondern nur daran, dass der Sieg extrem wichtig war im Abstiegskampf. Mir fallen übrigens einige Trainer ein, die nach Niederlagen gegen den FCA entlassen wurden. Vielleicht glaubten einige andere Bundesligisten, dass man reagieren muss, wenn man sogar schon in Augsburg verliert. Wir werden also vielleicht immer noch ein bisschen unterschätzt.
März 2020
Heiko Herrlich wird FCA-Trainer
Die Saison lief nicht rund, es gab im Abstiegskampf eine gefährliche Entwicklung, in der wir aus neun Spielen nur vier Punkte geholt haben. Wir verpflichteten also mit Heiko Herrlich einen Trainer, der für Kampfgeist und Leidenschaft steht und die Mannschaft stabilisiert hat. Für ihn war es eine schwierige Situation, denn noch vor seinem ersten Spiel musste die Liga wegen der Corona-Pandemie pausieren. Als es wieder losging, sprach kaum jemand darüber, wie er mit dem Team trainiert hatte oder wie es sportlich weitergeht. Es ging nur noch um seinen Quarantäne-Fauxpas. Er hatte die Vorschriften vergessen und war in einem Supermarkt Zahnpasta einkaufen gegangen. Es war gedankenlos. Er war zu sehr mit der Spielvorbereitung beschäftigt. Danach hat er keine Ausflüchte gesucht, und das hat mir gezeigt, wie er mit Fehlern umgeht. Die Medien beruhigten sich trotzdem nicht. Untragbar sei er, schrieb eine Zeitung. So ein Quatsch. Die Verhältnismäßigkeit stimmte irgendwann nicht mehr.
„Er war unser Denker und Lenker“
Juni 2020
Daniel Baier verlässt den FCA
Daniel ist zweifelsohne das Gesicht der letzten zehn Augsburger Jahre. Er war unser Denker und Lenker. Aber man muss sich auch mal von verdienten Spielern trennen, um etwas Neues entstehen zu lassen. Eine neue Hierarchie zum Beispiel oder ein neues Leistungsklima. Die Fans sind nicht glücklich, dass wir den Vertrag aufgelöst haben, und ich kann verstehen, wenn es für Außenstehende schwer nachvollziehbar ist. Aber wir haben mit Daniel ein Abschiedsspiel vereinbart, das es bisher für keinen FCA-Spieler gab. Das wird sicher eine tolle Gelegenheit auch für die Fans, sich gemeinsam gebührend zu verabschieden.
September 2020
Augsburg geht in die zehnte Bundesligasaison
La Decima, das macht mich stolz. Unser Ziel ist wie vor jeder Saison zunächst der Klassenerhalt. Denn auch wenn es am Anfang einige Skeptiker gab und sogar Walther Seinsch dachte, dass wir bald wieder absteigen, kann ich versichern: Wir sind gekommen, um zu bleiben. Wenn es gut läuft, dann ist auch mal wieder ein einstelliger Tabellenplatz drin. Und wenn es mal sehr gut läuft, dann kommen wir im DFB-Pokal bis nach Berlin. Das wäre ein Traum. Bis dahin gilt: Wir werden jedes Spiel angehen, als wäre es das letzte!