Nie war die Abstiegsgefahr bei Werder größer als in dieser Saison. Trotzdem hält der Verein an Trainer Florian Kohfeldt fest. Am Wochenende, als die Liga wegen Anti-Hopp-Bannern in Aufregung geriet, trafen wir drei lebenslang Grün-Weiße in der Bremer Kneipe „Eisen“.
Göddecke: Stimmt. Aber gerade in der Saison zeigt sich doch, wie außergewöhnlich das Werder-Publikum ist. Jeden Spieltag bekommen wir auf die Fresse und trotzdem werden Aufrufe gestartet, die Mannschaft zu unterstützen. Statt die Abfahrt des Teambusses zu verhindern oder wütend am Zaun zu rütteln, wird hier nach dem Schlusspfiff applaudiert. Selbst beim 0:2 gegen Union Berlin, wo wir nach dem Sieg im Pokal gegen Dortmund alle die Hoffnung hatten, dass es jetzt wieder bergauf gehen würde.
Guerrero: Man kann das gar nicht hoch genug einschätzen, was die Bremer Ultras in Sachen Umgangskultur geschaffen haben. Ich weiß noch, wie Pascal Borel (ein früherer Werder-Keeper, d. Red.) damals nach einigen Fehlern höhnisch beklatscht wurde, als er unfallfrei einen Rückpass weiterleitete. Da war ich kurz davor, nicht mehr ins Stadion zu gehen. Der Support der Ultras nach der schlimmen Niederlage gegen Union war mein bisheriges Saisonhighlight. Liebe ist eben bedingungslos!
Munk: Vielleicht trägt diese bedingungslose Liebe aber auch Mitschuld am aktuellen Desaster. Bestes Beispiel: Der ungebrochene Zuspruch für Florian Kohfeldt. Der hatte eine komplette Vorbereitung zur Verfügung, durfte über die Transfers entscheiden, sich eine Mannschaft nach seinen Vorstellungen zusammenstellen – und trotzdem funktioniert es vorne und hinten nicht! Manchmal frage ich mich, ob er wirklich die Kompetenzen besitzt, die ihm zugesprochen worden sind.
Guerrero: Kohfeldt ist in meinen Augen das letzte Pfund, das wir noch haben! Ein phantastischer Trainer, der im Verein schon an ganz vielen Stellschrauben gedreht hat, die komplette Mannschaft hinter sich stehen hat und für diesen Verein brennt. Vor einem Jahr, als ihn alle gefeiert haben, hätte der zu Dortmund gehen können und hat sich doch zu Werder bekannt, weil er hier etwas aufbauen will. Wo gibt es so was denn noch? Das ist doch das, was man sich als Fan wünscht. Ihn jetzt zu entlassen, wäre geradezu hirnrissig.
„Warum hat man sich dann vor der Saison hingestellt und als Saisonziel Europa ausgegeben? Totaler Quatsch“
Munk: Aber während wir hier zusammensitzen (1. März 2020, d. Red.), steht Werder auf Platz 17 und hat acht Punkte Rückstand auf Rang 15 …
Guerrero: Das hat am wenigsten was mit Kohfeldt zu tun. Auch nicht mit Frank Baumann (Geschäftsführer Sport, d. Red.). Die Schere zwischen den Klubs ist inzwischen so groß, dass sich ein Klub wie Werder nur Spieler leisten kann, die die ersten zehn Vereine der Liga nicht haben wollen. Und mit einem kaputten Schlauchboot hast du auf Dauer keine Chance gegen die Speedboote der Konkurrenz. Teams wie Werder, Mainz oder Freiburg dürfen sich keine Fehler und keine Schwächephasen erlauben, wenn sie nicht in den Abstiegsstrudel geraten wollen. Ein Klub wie Dortmund kann zehn Spiele verkacken und landet am Ende trotzdem in der Champions League. Der Abstieg wird kommen. Wenn nicht in dieser Saison, dann in den nächsten zwei oder drei Jahren.
Göddecke: Nur mit dem dauerverletzten Philipp Bargfrede und Nuri Sahin im defensiven Mittelfeld zu planen, war nicht schlau. Aber für vernünftigen Ersatz bzw. Alternativen fehlte wieder das Geld. Und dann die ganzen Verletzungen! Bestes Beispiel dafür ist Niclas Füllkrug. Der kam vor der Saison für 6,5 Millionen Euro als Toptransfer aus Hannover, holte drei Scorerpunkte in vier Spielen und riss sich dann das Kreuzband. Wie hat es Andi Brehme gesagt: „Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß“ – nie hat das besser gepasst als in dieser Saison.
Munk: Warum hat man sich dann vor der Saison hingestellt und als Saisonziel Europa ausgegeben? Totaler Quatsch. Es wäre völlig ausreichend gewesen, als Minimalziel 40 Punkte auszugeben und dann weiterzuschauen.
Guerrero: Das war schon jugendlich forsch von Kohfeldt. Aber vergiss nicht, dass das sein drittes Jahr als Profitrainer ist. In zehn Jahren würde er so eine Zielvorgabe vermutlich anders formulieren. Mich hat diese Saison auch kalt erwischt. Aber wisst ihr, warum ich ziemlich gefasst reagieren werde, wenn wir wirklich absteigen sollten? Weil das nicht mehr der Fußball ist, in den ich mich einst verliebt habe. Weil das nicht mehr die Bundesliga ist, von der ich mich unter keinen Umständen verabschieden will. Ich komme mir vor wie einer, der jahrelang immer in den gleichen Urlaubsort gefahren ist, weil er den tollen Strand und die intakte Natur so liebte und sich jetzt notgedrungen nach etwas anderem umschaut, weil dort nun Hochhäuser stehen und alles vollgemüllt ist. Und selbst wenn wir den Klassenerhalt packen: Die oberen Tabellenplätze der Bundesliga wird Werder Bremen wohl nie wieder erreichen.
Munk: Sehe ich nicht so. Mit etwas Glück könnten wir es in Zukunft sogar mal wieder in den Europapokal schaffen. Aber zwischen Platz sechs und einem Abstiegsrang ist es eben nur noch ein schmaler Grat.
Guerrero: Die Qualifikation für den Europapokal wäre, so blöd es klingt, vermutlich das Schlimmste, was einem Verein wie Werder passieren könnte. In der Sommerpause werden die besten Spieler weggekauft, die Mannschaft zerfällt und kann die Doppelbelastung nicht aushalten. Dann ist der Abstieg garantiert. Der ist in Bremen nur eine Frage der Zeit – uns fehlen einfach die Möglichkeiten, auf Dauer in dieser Form von erster Liga zu bestehen.