Am Wochenende gehörte er zu den 100 besten FIFA-Spielern der Welt. Im normalen Leben ist Sascha Mockenhaupt Kapitän eines Drittligisten. Wie ist das passiert?
An diesem Wochenende gewann Sascha Mockenhaupt gewann 30 von 30 Spielen in der FIFA 21 Weekend League und war damit der 78. der Weltrangliste. Dieses Portrait erschien in Ausgabe 229 und ist hier im Shop erhältlich.
Als das Gegentor fällt, verliert Sascha Mockenhaupt die Nerven. War ein schönes Tor, nach einem Solo auf der Grundlinie musste sich der Stürmer nur um sich selbst drehen. Mockenhaupt, Kapitän beim Drittligisten SV Wehen Wiesbaden, brüllt: „Was ist das denn?! Wie kann man den denn mit ’nem Tor belohnen und dann so eins?!“ Klingt seltsam. „Häh?“ Er ist noch immer fassungslos. „Boah, bunkert der sich einen zurecht.“
Sein Ärger ist nur verständlich. Schließlich hatte er das Spiel im Griff. Aber jetzt gerade hat ihn machine904 vorgeführt. An diesem Abend sitzt Sascha Mockenhaupt, Verteidiger und in der Dritten Liga für seine Schnelligkeit gefürchtet, im Untergeschoss einer Doppelhaushälfte und spielt FIFA21 auf der Playstation. Es ist Sonntag; am Nachmittag hat er vor hundert Zuschauern gegen Bayerns U23 2:4 verloren, und jetzt werden ihm über eintausend Menschen im Internet dabei zusehen, wie er auf der Konsole spielt. Denn Mockenhaupt ist nicht nur Fußballprofi, sondern auch E‑Sportler. Und wer beobachtet, wie er sich an einem Abend über das Spielglück der Gegner, die Geschwindigkeit seiner virtuellen Spieler und Gegentore ärgert, stellt sich die Frage: Wie ist er da hineingeraten?
Ziemlich viel Glück. So ließe sich die Karriere von Sascha Mockenhaupt am schnellsten erklären – aber das stimmt natürlich nicht. An einem Dienstagmorgen sitzt er am Küchentisch und überlegt: „In den Momenten, in denen es zählt, bin ich da.“ Dabei ließ er die erste Chance gleich mal aus, als er in der C‑Jugend zu Bayer Leverkusen wechselte, im Mittelfeld als Spielmacher mit Christoph Kramer um einen Stammplatz kämpfte und von der Profikarriere träumte. „Meine Mama ist jede Woche fünf Mal zweihundert Kilometer gefahren, um mich zum Training zu bringen“, sagt Mockenhaupt. Für Freunde blieb keine Zeit mehr, eigentlich für nichts mehr. „In Leverkusen ist für mich das Hobby Fußball weggebrochen.“ Also entschloss er sich nach einem Jahr, das Experiment abzubrechen und zurück in die Heimat zu wechseln. Dort, bei der SG Betzdorf, kickte er mit Freunden.
Mockenhaupt hat den Körper eines Profisportlers: „Der ist erst 24 Jahre alt.“ Mockenhaupt ist 29. Was er meint: Sein Körper erholt sich weit besser als bei gleichaltrigen Kollegen, weil er jahrelang auf dem Dorf spielte, nur zwei statt sechs Mal in der Woche trainierte. „Wir haben auf Asche gespielt, sieht man an meinen Knien.“ Wer sich im Winter am schnellsten umzog, bekam einen Ball, der nicht hartgefroren war. Und er ist schnell. Dreißig Meter läuft er in 3,78 Sekunden. Als Usain Bolt 2009 Weltrekord lief, rannte er die ersten dreißig Meter in der gleichen Zeit.
Mockenhaupts Tempo sorgte dafür, dass er noch eine Chance erhielt. Bis dahin spielte er auf der rechten Außenbahn in Betzdorf, Oberliga Südwest, er machte Abi und wollte Psychologie studieren, absolvierte ein FSJ in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Dann kam ein Scout des 1. FC Kaiserslautern vorbei, weil es hieß, dass in Betzdorf „viel über den Rechtsaußen geht“. Der Scout war nicht beeindruckt. Mockenhaupts Glück: Im Spiel brach sich ein Innenverteidiger den Zeh. Nach der Pause sprang er als Verteidiger ein. Der Scout bot ihm ein Probetraining bei der zweiten Mannschaft an.
Seit 2014 ist Mockenhaupt Profi. Er hat für Kaiserslautern gespielt, für den VfR Aalen, er war ein Jahr bei FK Bodø/Glimt in Norwegen und seit 2017 spielt er für Wiesbaden. Wenn er seine Stationen aufzählt, spricht er reflektiert. Sortiert zwischen Fußball, dem Beruf, und Kicken mit den Jungs. Er weiß, dass da eine Menge zusammengekommen ist. Dass Franco Foda, der Trainer in Lautern, ausgerechnet einen schnellen Verteidiger brauchte. Und Foda in der zweiten Mannschaft bei ihm fündig wurde. Dass er mal wieder eine Chance genutzt hat. Mockenhaupt ist es wichtig, dass er für den Erfolg viel getan hat. Er hat zehn Kilo Muskelmasse zugelegt, Extraschichten, alles aufgeholt, was die Kollegen in den Leistungszentren eingetrichtert bekamen. „Dafür“, sagt er, „weiß ich, was Muttizettel und Zeltfeten bedeuten.“ Hat alles seine Vorteile.
Zum Beispiel die langen Fahrten zum Training nach Leverkusen. Weil er abends nach Hause kam, wenn seine Freunde schon schliefen, gab es nur eine Freizeitoption: zocken. „Fußball und Zocken. Ich habe nicht anderes mehr gemacht.“ Meistens spielte er FIFA. Und, natürlich, nutzte er wieder eine Gelegenheit. Weil die E‑Sport-Abteilung in Wiesbaden oft verliert, schlugen Teamkollegen im vergangenen Winter vor, „der Mocki“ solle es mal probieren. Der Kapitän der Fußballmannschaft schlug die E‑Sportler – und ist seitdem Mitglied beider Teams. Alle drei Tage spielt er nun, auf der Streaming-Plattform Twitch kann jeder zusehen. Durch Klicks und Sponsorenverträge verdient Mockenhaupt ein bisschen nebenher. Knapp vierstellig, wenn’s richtig gut läuft. Mehr als vorher, sagt er, sitze er deshalb nicht vor der Konsole. Er und der Verein haben das Marketingpotential erkannt. In den Streams kommen sich „M_ocki“, der Profi, und Wiesbadens Fans unverfälscht nah.
Dann sitzt Mockenhaupt fünf Stunden vor der Konsole. Im Hintergrund ein abgewetztes BVB-Kissen aus Kindertagen und die Trikots alter Weggefährten säuberlich an der Wand aufgehängt. Proschwitz, Dadashov, Christoph Kramer. Online gewinnt er gegen AleSerb95, xBl4ckW0lf3, und er dreht auch das Spiel gegen machine904. Seine Fans feuern ihn in den Kommentaren an. Einer schreibt: „Euer Auswärtstrikot ist zu wild.“ Ein anderer: „bin raus für heute hausaufgaben noch und essen viel glück noch @M_ocki“.