Alarm im vergangenen Jahr, Beruhigung in diesem: Die Polizei veröffentlicht ihre Zahlen zur Gewalt im deutschen Fußball – und erntet Kritik für ihre Statistik.
Der Veröffentlichung folgte ein Aufschrei. Die Zentrale Informationsstelle für Sporteinsätze (Zis) gab im November des vergangenen Jahres ihren Jahresbericht heraus. Darin war zu lesen, dass es mehr Verletzte, mehr Strafverfahren, mehr Einsatzstunden für Polizisten im Fußball gegeben habe. Medien, Politiker und Funktionäre sprachen prompt von einer „neuen Gewaltwelle“. Die Situation spitzte sich bis zum Dezember 2012 zu, Funktionäre erstellten und berieten ein Sicherheitspapier, die Fans schwiegen während der Spiele aus Protest gegen die geplanten Maßnahmen.
Nun teilte die Behörde mit, dass die neuen Zahlen rückläufig seien. Die Gesamtzahl der Verletzten sei gar um ein Drittel zurückgegangen. Der öffentliche Nachhall verlief vergleichsweise geräuschlos. Hat der Fußball nun also kein Gewaltproblem mehr? Oder anders gefragt: Hatte er denn überhaupt eins? Bei genauerem Hinsehen sind die veröffentlichten Zahlen wenig überraschend, erklären sie sich doch anhand der besonderen Umstände der untersuchten Saison.
1. Auf- und Abstieg in Liga zwei
„Anstieg mit Ansage“, war die Überschrift eines Artikels an dieser Stelle zu der 2012 veröffentlichten Statistik. Die Zunahme der Verletztenzahlen und eingeleiteten Strafverfahren war unter anderem in der besonderen Konstellation der untersuchten Saison 2011/12 begründet. Die Zis selbst führte den Anstieg gewaltbereiter Personen auf die „brisante Zusammensetzung der 2. Bundesliga“ zurück. Jetzt gingen die Zahlen zurück, die Polizei sieht die Gründe ebenfalls in der Konstellation der Zweiten Liga: „Diese Rückgänge sind im Wesentlichen auf den Abstieg ehemaliger Zweitligavereine in die 3. Liga zurückzuführen“, heißt es in dem Bericht.
Vor der nun behandelten Saison stiegen der Karlsruher SC, Alemannia Aachen und Hansa Rostock aus der Zweiten Liga ab. Aufsteiger waren der VfR Aalen, SV Sandhausen und Jahn Regensburg. Allein vom Zuschauerpotenzial her unterscheiden sich die Absteiger von den Aufsteigern mehr als deutlich.
Die Zis spricht von einem Rückgang des Gewaltpotenzials in den ersten beiden Ligen um 956 Personen, allerdings einer Zunahme in der Dritten Liga um ca. 800 Personen. Den Angaben der Zis zufolge gibt es demnach nicht weniger gewaltbereite Personen im Fußball, sondern nur in den ersten beiden Ligen. Man könnte sagen: Die Wassermenge ist fast gleich, sie wurde nur in einen dritten Messbecher umgefüllt.
2. Die Diskussion um Pyrotechnik
Die Zis erwähnte 2012, dass die abgebrochenen Gespräche zwischen Fanvertretern und dem DFB über Pyrotechnik „ursächlich“ für die damalige Zunahme von Ermittlungsverfahren gewesen sei. Nach dem Streit mit dem Verband brannten in den Stadien immer mehr Bengalos, es gab folglich mehr Strafverfahren.
Es war eine Ausnahmesituation und ‑saison. In dem aktuellen Bericht gingen die Pyrotechnikvergehen zurück, folglich reduzierte sich die Zahl der eingeleiteten Strafverfahren. Der Anteil von Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz bei den Strafverfahren nahm um satte 48 Prozent ab.
3. Internationale Risikospiele
Die Zunahme im vergangenen Jahr hatte auch mit der Europa League zu tun. Die Zis erklärte seinerzeit gegenüber 11FREUNDE, die Spiele im Europapokal hätten „eine starke Absicherung“ erforderlich gemacht. Hannover 96 war in jener Saison in der Europa League beispielsweise auf Brügge und Lüttich getroffen; Spiele, bei denen viele gewaltbereite Fans aus dem Ausland angereist waren. Diese internationalen Risikospiele hatten die Statistik insofern enorm beeinflusst.
Internationale Risikospiele wie jene zwischen Hannover und Brügge gab es in der folgenden Spielzeit viel seltener. Allein die eingeleiteten Strafverfahren der Länderpolizeien in den Kategorien „UEFA Clubwettbewerbe und Sonstige“ gingen nun um 52 Prozent zurück. Zum Vergleich: Jene bei Spielen in der ersten und zweiten Liga verzeichneten einen Rückgang um acht Prozent. Wie eine Statistik ausfällt, hängt also auch davon ab, wie weit deutsche Teams international kommen und auf welche Gegner sie dabei treffen.
4. Mehr oder weniger Zuschauer in den Stadien
Fast vergessen wurde bei den Meldungen im vergangenen Jahr, dass auch die Anzahl der Zuschauer gestiegen war. Es gab 1,3 Millionen mehr Besucher in den Stadien – auch diese Zahl war im Zusammenhang mit den gestiegenen polizeilichen Arbeitsstunden und Verletztenzahlen nicht unerheblich. Nun waren es 0,7 Millionen weniger Zuschauer. So ergab sich neben der absoluten Zahlen der Zis folgende relative:
Der prozentuale Anteil der Verletzten unter allen Stadionbesuchern der ersten beiden Ligen lag 2012 demnach bei 0,005 Prozent.
In der nun aktuell veröffentlichten Statistik sind es 0,003 Prozent.
Kritik: „Oberflächliche Zahlen“
Die Erhebung der Zis steht gerade bei organisierten Fangruppen in der Kritik. Das Bündnis „Unsere Kurve“ nennt den Jahresbericht „eine Ansammlung von oberflächlichen Zahlen“. Die Fans bemängeln, dass die Statistik unerwähnt lässt, wie viele der eingeleiteten Strafverfahren tatsächlich zu einem rechtskräftigen Urteil geführt hätten.
Außerdem bliebe bei den Verletztenstatistiken Grad und Ursache der Verletzungen unklar. Christian Bieberstein, der Sprecher von „Unsere Kurve“ sagt: „So kann man weiterhin nur mutmaßen, ob diese Verletzungen wirklich durch körperliche Auseinandersetzungen, Selbstverschulden oder gar durch einen überharten Einsatz von Ordnungsdienst oder Polizei entstanden sind.“
Verabredete Auseinandersetzungen
Durch die Polizei verletzte Personen werden ebenso in der Statistik erfasst. Dies teilte die ZiS im vergangenen Jahr auf Nachfrage von Spiegel online mit. Somit waren damals in diesem Abschnitt auch 36 Personen aufgeführt, die beim Spiel zwischen Hannover und Bayern durch einen Pfeffersprayeinsatz der Polizei verletzt worden waren. Gleiches wird wohl im kommenden Bericht für die jüngst über 80 verletzten Personen während des Spiels des FC Schalke gegen Saloniki gelten.
Allerdings bleibt auch anzumerken, dass es gerade im Hinblick auf die Verletztenzahlen eine gewisse Dunkelziffer gibt. Die Zis spricht hierbei von verabredeten Auseinandersetzungen gegnerischer Anhänger außerhalb der Stadien oder teilweise ohne Fußballbezug.
Die Situation hat sich kaum verändert
Viele Funktionäre nutzen die Zahlen der Zis als alleinigen Indikator für die Zustände in deutschen Stadien. Dabei werden nicht selten die genannten Faktoren und Einordnungen komplett außer Acht gelassen.
Die Situation in den deutschen Stadien hat sich nicht grundlegend verändert. Bei den Zis-Zahlen gab es erklärbare Ausreißer nach oben und unten, besondere Umstände verzerrten die Zahlen. Jeder Verletzte ist einer zu viel, doch die Relation sollte nicht außer Acht gelassen werden. Das Fanzine „Schalke Unser“ kam daher in seiner aktuellen Betrachtung auch nicht an einem oft bemühten, aber treffenden Vergleich vorbei:
„Und weil es einfach sein muss:
Fußball: 18 Millionen Zuschauer, 788 Verletzte;
Oktoberfest: 6,4 Millionen Gäste, 7551 Verletzte.“