Mit Klaas-Jan Huntelaar feiert einer der großen Goalgetter des europäischen Fußballs seinen 40. Geburtstag. Wir fragten damals bei ihm nach, wie das eigentlich geht: Tore schießen.
Das Interview erschien erstmals in 11FREUNDE #110. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Klaas-Jan Huntelaar, Sie treffen durchschnittlich in zwei von drei Spielen. Löst ein Torerfolg bei Ihnen noch besondere Gefühle aus?
Das Gefühl, wenn der Ball im Netz zappelt, ist unbeschreiblich. Dann explodieren 50 000 Fans auf den Rängen. Tore zu schießen, ist für mich eine Sucht.
„Tore schießen ist wie Fahrrad fahren“, haben Sie einmal gesagt. Heißt das, dass man es nicht mehr verlernt, wenn man es einmal kann?
Seit meiner jüngsten Kindheit stehe ich vor dem Tor und warte auf meine Chance. Inzwischen ist mir das Toremachen in Fleisch und Blut übergegangen.
Das klingt so selbstverständlich, als könne man es nicht üben.
Doch, natürlich kann man das trainieren. Aber es ist eine Frage des Kopfes, ob ich in bestimmten Situationen in der Lage bin, die richtige Lösung zu finden. Viele Stürmer kennen die Lösung, verpassen aber die Situation, um sie einzusetzen.
Haben Sie sich auf Youtube das Video „Huntelaar Scoring Technics“ angeschaut?
Nein, ich bin nicht allzu oft im Internet. Was gibt es da zu sehen?
Das Video zeigt einen zehnminütigen Zusammenschnitt Ihrer Treffer und ist wie ein Lexikon des Toreschießens: Distanzschuss und Abstauber, Flugkopfball und Lupfer, Rechts- und Linksschuss, Schlenzer, Dribblings. Ist diese Vielseitigkeit Ihr größter Trumpf?
Ich habe immer nur vor Augen, das Tor zu machen. Wenn der Ball auf Brusthöhe kommt, halte ich meine Brust hin. Wenn es das Knie sein soll, nehme ich das Knie. Ich wähle immer die einfachste Lösung.
„Ich kann nicht meine Kraft in der Defensive aufbrauchen, weil sie mir dann im Angriff fehlt“
Als was für einen Typ Goalgetter sehen Sie sich selbst?
Ich bin in der Nähe des Tores am wertvollsten und fühle mich da am wohlsten. Aber in dem engen Korridor vorm Tor sind immer sehr viele Leute und der Raum für einen Stürmer ist minimal. Deswegen muss man sich gelegentlich zurückfallen lassen, dann hat man die Abwehr vor sich. Rücken die Verteidiger nicht nach, eröffnen sich vollkommen neue Möglichkeiten.
Sind Sie ein altmodischer Stürmer?
Was meinen Sie damit?
Heutzutage erwartet man von einem Angreifer eher, dass er sich in den Aufbau einschaltet, mitspielt, verteidigt.
Aber ich liebe es doch auch mitzuspielen und will immer den Ball haben. Nur geht es letztlich darum, Tore zu schießen. Wenn man als Stürmer mehr im Mittelfeld arbeitet, kann man nicht direkt vor dem Tor zur Stelle sein. Ich kann nicht meine Kraft in der Defensive aufbrauchen, weil sie mir dann im Angriff fehlt. Mit der Kraft schwindet auch die Konzentration. Wenn der Ball in den Sechzehner kommt, musst du vor dem Tor stehen, sonst hast du deinen Job verfehlt.
Für Louis van Gaal, der Sie schon lange kennt, sind Sie „der beste Strafraumstürmer der Welt“.
Ich denke, er meinte, dass ich ein gutes Gefühl für die richtige Position habe, um auf einfachstem Weg zum Abschluss zu kommen.
„Ich nehme einen größeren Bereich wahr als andere Spieler“
Wie entwickelt man das nötige Gespür dafür?
Das ist Instinkt. Wenn ich eine Situation erkenne, dann mache ich intuitiv, was ich für das Beste halte.
Aber was macht diesen Instinkt aus? Gab es mal Tests, die Ihnen darauf Rückschlüsse geliefert haben?
Beim AC Mailand habe ich im MilanLab so viele Testreihen absolviert wie bei keinem anderen Verein. Darunter war auch ein Augentest, in dem es vor allem um Wahrnehmungsfähigkeit ging. Ich muss sehr gut abgeschnitten haben, denn der Tester war hinterher richtig euphorisch. Er sagte mir, dass niemand zuvor mit so einem guten Ergebnis abgeschlossen habe.
Was mussten Sie machen?
Man hat einen Bildschirm vor sich, auf dem man ein Spielfeld sieht. Dort leuchtete in unregelmäßigen Abständen kurz ein Licht auf, das ich per Mausklick schnellstmöglich markieren musste. Damit wurde einerseits die Reaktionsfähigkeit, aber auch das periphere Sehen getestet. Die Punkte lagen teilweise auch außerhalb des Spielfelds, so dass man auch die Größe des Sichtfeldes bestimmen konnte.
Sie sehen also Dinge, die Ihre Gegenspieler so schnell nicht wahrnehmen?
Ja, anscheinend nehme ich einen größeren Bereich wahr als andere Spieler.
Und was passiert, wenn der Ball angeflogen kommt und Sie registrieren: Das könnte eine Riesenchance werden?
Für mich ist das wie Mathematik: Ich kalkuliere die Situation und suche systematisch nach der besten Lösung. Dabei orientiere ich mich an drei Fixpunkten: Wo steht mein Gegenspieler? Wo ist der Torwart? Und auf welcher Position bin ich? Dieses Dreieck muss ich in Sekundenbruchteilen erkennen und entscheiden, wie ich den Ball bestmöglich verarbeite. Wichtig ist nur: Der Weg zum Tor sollte immer der einfachste sein.