Thomas Müller, Bastian Schweinsteiger oder Holger Badstuber spielen seit ihrer Jugend beim FC Bayern. Doch die auf den ersten Blick hervorragende Nachwuchsarbeit des Rekordmeisters ist in die Kritik geraten. Nun setzt man auf Hilfe von außen – sogar von 1860 München.
Berkant Göktan, Zvjezdan Misimovic, Thomas Hitzlsperger. Nur mit Mühe erkennt man sie. Auf den drei gerahmten Postern, die im Büro von Werner Kern hängen, jubeln sie mit anderen Jugendlichen in Trikots des FC Bayern München. Optisch passen sie in die erste Ära Ottmar Hitzfelds, irgendwann um das Jahr 2000. Kern hat Mühe, auch die anderen Kinder und Jugendlichen beim Namen zu nennen, vor allem, weil viele nur von hinten zu sehen sind. Doch er kennt sie alle. Kern ist seit vierzehn Jahren Nachwuchskoordinator des FC Bayern München.
Rund fünfhundert Talente haben in seiner Zeit in den Juniorteams des Vereins gespielt, um die hundert sind Profis geworden. „Wir haben da Werte kreiert. Jugendarbeit ist ja ein Investment, so wie wir das betrieben haben, die ganze Zeit“, sagt Kern dazu. Seine Lieblingssumme sind die 25 Millionen Euro, die der Klub für den gebürtigen Kanadier Owen Hargreaves erlöste, als der zu Manchester United wechselte. Spieler wie Hargreaves sind der große Stolz des Werner Kern. Spieler, die es vom Juniorteam zu den Profis des FC Bayern München schafften. Doch die sucht man auf den Postern vergebens. Kein Philipp Lahm, kein Bastian Schweinsteiger, kein Thomas Müller. Die Poster zeugen noch von den Anfängen der Ära Kern vor vierzehn Jahren – und werden nun wohl nicht mehr ausgetauscht.
Der 66-jährige Kern hört im Juni auf, er geht in seinen verdienten Ruhestand. Bereits im vorigen Sommer sollte er durch Hans-Jörg Butt, 37, abgelöst werden. Doch der setzte sich noch eine Saison als Ersatztorhüter bei den Profis auf die Bank und wurde im Hintergrund eingearbeitet. Kerns Ausstand nutzt der FC Bayern München nun für einen großen Umbruch bei der Jugendarbeit. Butt soll dabei der neue starke Mann werden, zusammen mit Michael Tarnat, 42, dem sportlichen Leiter des Juniorteams.
Der ehemalige Bayern-Profi hat sein Büro bereits bezogen, gleich neben dem von Kern im Container-Trakt auf dem Trainingsgelände in der Säbener Straße, unter einem Dach mit dem Jugendhaus, dem Internat des Vereins. In Tarnats Büro hängen noch keine Poster. Dafür gibt es eine Flipchart-Tafel und zwei große dunkle Flatscreens. Hier wird schon gearbeitet.
„Zuletzt sind wir ein wenig ausgeblutet“
Eigentlich sollte Tarnat Scout werden, doch schnell etablierte er sich als planerischer, wacher Kopf, der die zuletzt schwächelnde Abteilung neu aufbauen soll. Denn dem bayerischen Selbstverständnis als ewige Nummer Eins im Lande kommt der Nachwuchs seit einigen Jahren nicht mehr nach. Titel in den wichtigsten Jugend-Mannschaften der U19 und U17 sind selten, gerade mal drei bzw. vier Deutsche Meisterschaften gab es in den vergangenen 24 Jahren zu feiern.
Juni 2009: Werner Kern mit dem damaligen U17-Spieler David Alaba (Bild: Imago)
Und die U23, die zweite Mannschaft, dümpelt in der Regionalliga Süd im unteren Tabellen-Mittelfeld, noch hinter den zweiten Mannschaften vom FC Ingolstadt oder Zweitligaabsteiger Karlsruher SC. Ziel war eigentlich der direkte Wiederaufstieg in die Dritte Liga. „Die letzten zwei Jahre sind nicht so gelaufen, wie wir uns das vorstellen. Zuletzt sind wir da ein wenig ausgeblutet“, gibt Kern zu, auch mit Verweis auf Spieler wie Holger Badstuber, Thomas Müller, Toni Kroos oder David Alaba, die einen schnellen Weg zu den Profis gefunden haben.
Vierzehn Jahre sind eine lange Zeit. Vor vierzehn Jahren stand die katastrophale Europameisterschaft 2000 noch bevor, in deren Anschluss die Fußball-Jugendarbeit in Deutschland komplett reformiert wurde. In München gab es damals schon das Jugendhaus – und eine gute Jugendarbeit: Markus Babbel, Dietmar Hamann, Sammy Kuffour oder Christian Nerlinger wurden in den frühen neunziger Jahren ausgebildet. Kern erzählt von seinen ersten Aufgaben, von Kooperationen mit Partnerschulen, wie es heute bundesweit Standard ist.
Auf die Konkurrenz habe man dabei selten geschaut. Kern stellte die eigene Philosophie stets in den Mittelpunkt. Mit Erfolg: In den Jahren 2001 bis 2007 stellte der FC Bayern die beste Nachwuchsabteilung, man holte unter anderem die drei U19-Meisterschaften. Doch Titel im Jugendbereich waren für Kern zweitrangig. Wichtiger war ihm die Ausbildung der Talente, vor allem auch schulisch.
Befehl von ganz oben
Doch die Konkurrenz hat mithilfe der Nachwuchsleistungszentren aufgeholt. In Freiburg und Stuttgart wurden zuletzt die meisten Erfolge gefeiert. Die Breisgauer gewannen erst am Wochenende zum dritten Mal in vier Jahren den DFB-Juniorenpokal, Stuttgarts U23 ist die einzige im Profifußball verbliebene zweite Mannschaft. Und das gefällt in München dann doch nicht, vor allem dem neuen Führungsteam. Tarnat findet, der Anspruch der Münchner müsse es stets sein, Titel zu holen.
Deshalb sollen unter anderem der ehemalige Freiburg-Cheftrainer Marcus Sorg und Marc Kienle, zuletzt Nachwuchsleiter in Stuttgart, Aufbauhilfe in München leisten. „Wir wollen ihr Knowhow hier mit einbringen, um ebenfalls neue Wege zu gehen“, sagt Tarnat, der beide in Absprache mit Butt verpflichtet hat. Die Order des Neuaufbaus kommt von ganz oben. Sportdirektor Christian Nerlinger nickt alles ab. „Das ganze Team soll verjüngt werden“, sagt Michael Tarnat dazu. Das Wort „ausmisten“ nimmt er nicht in den Mund. „Es wäre vermessen zu behaupten, dass wir alles können und alles wissen. Der Fußball entwickelt sich weiter und da schauen wir auch über die Grenzen von Bayern München hinaus.“
Die Ära Hummels-Kern-Gerland ist vorbei
Kern hat mit den aktuellen Personalien nichts mehr zu tun. Er war eher ein Förderer des bayerischen „mia san mia“. Unterstützung von außen war nicht nötig. Jahrelang traf sich eine Troika wöchentlich in Kerns Büro. Kern zeigt auf den runden Tisch in der Ecke des Raums. Hermann Gerland, 57, Hermann Hummels, 52, und eben Kern saßen hier stets zusammen, wenn über das Potenzial, die Zukunft oder auch die Auslese der einzelnen Nachwuchsspieler diskutiert wurde. Doch die Zeiten sind vorbei. Gerland ist jetzt Assistenztrainer der Profis, Hummels – Vater des nach Dortmund gewechselten Mats – wurde kürzlich nach siebzehn Jahren bei Bayern München geschasst.
Auch Tarnat hat einen runden Tisch in seinem Büro, direkt neben der Tür. Er teilt sich den Raum noch mit U16-Trainer Sebastian Dremmler, Sohn des jahrelangen Chefscouts Wolfgang Dremmler. Ab dem Sommer wird der neue runde Tisch dann auch besetzt sein: mit Michael Tarnat, Hans-Jörg Butt, Christian Nerlinger – und Jürgen Jung, der bis Januar noch Nachwuchsleiter beim Stadtrivalen 1860 München war.
Negatives Echo für einen Ex-Löwen
Sein Wechsel hat in München für ein negatives Echo gesorgt, wie Jung selbst zähneknirschend berichtet. Deshalb will er gar nicht viel über seine Person reden, sondern erklärt lieber die gute Nachwuchsarbeit seines ehemaligen Arbeitgeber, wo die Bender-Zwillinge, Moritz Leitner, Marcel Schäfer oder Timo Gebhart ausgebildet wurden: “Dort haben die Leute meist mehr als hundert Prozent gegeben.“
Auf die Nachfrage, was das denn genau bedeute und ob das nicht überall in Deutschland mittlerweile passiert, sagt Jung: “Da schaut keiner auf die Uhr. Um siebzehn Uhr ist dann halt nicht einfach Schluss.“ Und an den Wochenenden scouten eben auch dutzende ältere Herren auf den bayerischen Dorfplätzen, die den Sechzigern durch Herzblut verbunden sind.
Jugendetat von mehr als fünf Millionen Euro
Doch die Entwicklungsmöglichkeiten und Perspektiven sind auf der anderen Seite Münchens eben besser, zumal bei 1860 seit kurzem auch offen über Kürzungen des Nachwuchsbudgets nachgedacht wird. Beim FC Bayern München soll der Etat allein für die Nachwuchsarbeit bei mehr als fünf Millionen Euro jährlich liegen. Höher als bei vielen Drittligisten oder Spitzenmannschaften aus anderen Sportarten insgesamt. Davon wird auch ein riesiges Team von etwa 40 teilweise hauptamtlichen Nachwuchstrainern, Physiotherapeuten und Betreuern finanziert. Etwa 165 Talente spielen derzeit in den zwölf Mannschaften von der U8 bis zur U23. „Mehr sind auch kaum möglich, da gibt es Richtlinien vom DFB“, erklärt Kern.
„Wenn du die besten Trainer, das beste Scouting und die beste Infrastruktur hast, dann sollte der FC Bayern auch die besten Talente akquirieren können – und letztlich sollten auch Titel herausspringen“, hat Sportdirektor Christian Nerlinger vor dem Umbruch vorgegeben. Vor allem Nerlinger hat den Generationenwechsel mit angeschoben. Auch Mehmet Scholl, seit kurzem fertig ausgebildeter Fußball-Lehrer, kehrt als Trainer der U23 zurück und bringt mit Sören Osterland gleich noch einen 26-jährigen Co-Trainer von der DFB-Fußball-Lehrer-Ausbildung mit. Der Wandel soll sich auch in der Philosophie abzeichnen, wie Tarnat erzählt: „Wir werden wieder vermehrt im bayerischen Raum sichten und scouten. Dort fällt es leichter, sich mit dem Verein zu identifizieren.“ Mit Babbel, Hamann, Lahm, Müller oder Schweinsteiger haben ja auch in der Vergangenheit gerade bayerische Spieler den Sprung in den Profi-Kader geschafft und sich als lohnende jahrelange Investition erwiesen.
Hoch gehandelt wird Gianluca Gaudino
Ab 17:30 Uhr wird das Trainingsgelände plötzlich mit Leben erfüllt. Bis dahin saßen nur ein paar Touristen im Biergarten zwischen den Trainingsplätzen. Doch nun tummeln sich dort ganze Scharen von Männergruppen. Und auch Frauen und Kinder sitzen auf den kniehohen Steinmauern mit Blick auf die Trainingsplätze. Ein kleines Vereinsfest am Donnerstagnachmittag, nur ohne Grill und Musik. Es sind die Familien der Nachwuchsspieler, die ihre Söhne zum Training begleiten. Denn auf drei Plätzen haben gleich sieben Nachwuchsmannschaften parallel ihre Einheiten begonnen. Die jüngeren Mannschaften trainieren auf einem Viertel des Kunstrasenplatzes im Rücken des Jugendhauses. Die U16 und U17 haben jeweils eine Rasenhälfte für sich. Und die U19 hat den entferntesten Rasenplatz in Beschlag genommen.
Der mit Abstand am höchsten gehandelte Nachwuchsspieler des FC Bayern München, Emre Can, ist nicht dabei. Er trainiert bereits bei den Profis mit. Doch außer dem Kapitän der U17-Nationalmannschaft, die im vorigen Jahr mit spektakulärem Offensiv-Fußball Dritter bei der WM in Mexiko wurde, gibt es nur eine Handvoll weiterer Junioren-Nationalspieler, etwa Patrick Weihrauch, Vladimir Rankovic oder den Österreicher Christian Derflinger. Hoch gehandelt wird auch der noch etwas schmächtige Gianluca Gaudino, der bei den U16-Junioren spielt und Sohn des ehemaligen Frankfurters Maurizio Gaudino ist.
Beim Trainingsspiel der U16 steht Michael Tarnat derweil mal wieder im Tor, nun im Trainingsanzug, wie im September 1999, als er im Bundesligaspiel bei Eintracht Frankfurt eine halbe Stunde lang seinen Kasten sauber hielt, nachdem auf bizarre Weise erst Oliver Kahn ausgeknockt wurde und dann Ersatztorhüter Bernd Dreher sieben Minuten später einen Kreuzbandriss erlitten hatte. Ohne Gegentor bleibt Tarnat an diesem Trainingstag nicht. Bereits nach zehn Minuten hat ihn ein Jugendspieler das erste Mal überwunden.
Danach trifft auch der blendend aufgelegte Gaudino Jr. gegen Tarnat. Aber der sportliche Leiter ist präsent, auch nach siebzehn Uhr. Am Ende der Einheiten steht er mit Jürgen Jung zusammen und schaut durch einen Zaun hinüber zum Kunstrasenplatz. Es ist bereits nach 19 Uhr und beide sprechen noch, als die Mannschaften bereits ihr Training beendet haben.
Werner Kern ist zu der Zeit nicht mehr zu sehen. Seine Ära endet in Kürze. Auf dem Parkplatz direkt hinter dem Container-Trakt befindet sich eins der letzten Relikte. Drei Plätze sind mit kleinen weißen Namensschildern reserviert: für Kurt Niedermayer, 56, den aktuellen U19-Trainer, der im Sommer ebenfalls aufhört, Hermann Hummels und Werner Kern.