Leeds United kehrt in die Premier League zurück, der Aufstieg gilt als Meisterstück von Marcelo Bielsa. Doch wer ist der Trainer, den Pep Guardiola verehrt und der Diego Simeone inspiriert? Eine Spurensuche.
Der 63-Jährige beantwortet die alltäglichen Fragen nicht nur geduldig, sondern reichert sie mit grundsätzlichen Ausführungen aus seinem Lehrbuch an. „Die Positionen der Flügelspieler sowie der Nummer Neun und Zehn sind die wichtigsten im Fußball. Das zeigt sich auch darin, dass 75 Prozent der Auswechslungen eine dieser vier Positionen betreffen“, sagt er nebenbei auf die Frage nach einem verletzten Stürmer. Geduldig erklärt er die Dinge auch den Begriffsstutzigen im Auditorium: „Ich habe die Situation des Spielers viele Male erklärt, ich kann mich noch erinnern, was ich Ihnen darauf gesagt habe. Dennoch werde ich es noch einmal wiederholen“, sagt er und erklärt wirklich noch einmal, warum einer seiner Spieler nicht einsatzfähig ist.
Bielsa spricht dabei ohne Ironie, ohne Verzierungen oder Fußballsprech in klaren, einfachen Sätzen. Währenddessen reibt er angespannt die Daumen aneinander, und nur in wenigen Momenten schaut er kurz auf, sonst starrt er auf den Tisch vor sich. Angeblich hat er damit angefangen, weil er ohne Ansicht des Fragenden allen gleichermaßen Antwort stehen wollte. Aber es gibt auch Leute, die sagen, dass er einfach sehr schüchtern sei. Interviews gibt er schon lange nicht mehr. Wer etwas wissen will, soll zu seinen Pressekonferenzen kommen, die bei anderen Trainerstationen ausufernd lang waren. In Leeds verhindert das ein betont schlechtgelaunter Pressesprecher. Als Bielsa dann, wie er das immer tut, die Mannschaftsaufstellung fürs kommende Spiel bekanntgibt, wirkt er gar wie ein blinder Seher. Er schaut auf die vor ihm auf dem Tisch liegenden Hände. Die Finger sind ausgestreckt, und als er die Namen der elf Spieler nennt, hebt er sie abwechselnd kurz hoch, als würde er die Mannschaftsaufstellung in Brailleschrift vor sich ertasten.
Ankunft wie die eines Messias
„99 Prozent unserer Fans lieben ihn, und das eine Prozent schläft noch“, sagt Robert Endeacott. Sein Vater arbeitete 26 Jahre lang als Handwerker im Stadion Elland Road. Er selbst ist Mitglied im Vorstand des Leeds United Supporters Trust und hat einige Bücher über den Klub geschrieben. Gerade arbeitet er mit an der großen Vereinschronik, die zum hundertsten Geburtstag des Klubs im Oktober erscheinen soll. Als im vergangenen Sommer durchsickerte, dass Bielsa kommen sollte, sagte ihm der Name so wenig wie den meisten Anhängern. Doch dann stellte Endeacott fest, für wie viel Aufmerksamkeit die Nachricht sorgte, und seither findet er: „Der Klub hat damit seine Ambitionen bewiesen.“ Endlich, sagt sein Blick.
1999 wurden Leeds United Dritter in England und erreichte die Champions League, doch 2004 stiegen sie ab. Später sogar für drei peinliche Spielzeiten in die drittklassige League One. All die Jahre waren sie ein notorischer Chaosklub mit windigen Besitzern und trotz phantastischer Zuschauerzahlen permanent leeren Kassen. „In den letzten 15 Jahren gab es viele falsche Hoffnungen und viele falsche Neuanfänge“, sagt Endeacott und überlegt, woran es eigentlich liegt, dass Bielsa die Herzen der Fans von Leeds United so schnell zugeflogen sind. Klar, einerseits spielt die Mannschaft unter ihm erfolgreich, in den besten Momenten sogar aufregend und das mit fast den gleichen Spielern wie im Vorjahr sowie Youngstern aus dem eigenen Nachwuchs. Natürlich kommen seine Eigenheiten und Schrullen dem englischen Vergnügen an Exzentrikern entgegen. Der umgedrehte blaue Eiseimer, auf dem Bielsa am Spielfeldrand sitzt, wird im Fanshop für stolze 80 Pfund angeboten und ist ein Bestseller. Aber letztlich geht es um etwas anderes. „Der Mann ist fanatisch gründlich“, sagt Endeacott, und das sorgt nicht nur bei ihm für das Gefühl, dass sein Verein endlich in guten Händen ist.
Leeds‘ Spieler sammelten Müll auf
Es ist erstaunlich, dass gerade diesem intellektuellen Trainer aus Argentiniens Bildungsbürgertum die Herzen der Fans zufliegen. Bielsas Vater war Rechtsanwalt, seine Mutter Universitätsdozentin und sein älterer Bruder Rafael sogar mal argentinischer Außenminister. Dennoch hat das Publikum ihn auf all seinen Stationen geliebt, vielleicht, weil er so fanatisch ist wie sie selbst. Als die von Bielsa trainierten Newell’s Old Boys 1992 im eigenen Stadion in der Copa Libertadores mit 0:6 gegen San Lorenzo untergingen, wünschte er sich eine Nacht lang zutiefst, einfach zu sterben, wie er hinterher zugab. In Bilbao faltete er seine Spieler zusammen, weil er nach einer Niederlage im Pokalfinale Lachen gehört hatte. 2014 twitterten Fans von Olympique Marseille gerührt ein Foto von Bielsa, wie er im Trainingsanzug des Klubs bei McDonald‘s saß und völlig versunken ein Spiel am Computer analysierte. Und in Leeds konnten sie kaum glauben, dass er in seinen ersten Tagen die Spieler mal drei Stunden lang um das Trainingsgelände herum Müll aufsammeln ließ. Bielsa hatte sich erkundigt, dass ein einfacher Fan so lange arbeiten muss, um sich die Eintrittskarte zum Spiel leisten zu können.
Aber warum ist er gerade in Leeds? Um den zu treffen, der Trainer und Klub zusammengebracht hat, muss man hinauf in die zweite Etage der Haupttribüne des Stadions. Hinter der schmucklosen Holztür, neben der nüchtern „Offices“ steht, sind die Büros von Leeds United. Das von Victor Orta ist fensterlos und mit dem Schreibtisch, einem kleinen Sofa sowie Sessel fast schon voll. Zum Gefühl der Fülle trägt auch der Couchtisch bei, der überladen ist mit Büchern über den Verein und Fußballzeitschriften aus aller Welt. Orta schlägt ein Sonderheft zur J‑League auf und sagt: „Das ist Japanisch, und ich kann nichts davon lesen, aber ich bin ein Freak: Ich liebe Magazine!“ Der Director of Football hat tausende Fußballzeitschriften gesammelt, das legendäre argentinische Magazin „El Grafico“ sogar komplett von der ersten Ausgabe 1920 bis zur letzten, die 2018 erschien.