Wer während des Spiels pinkeln muss, hat ein Problem. Schließlich könnten die drei Minuten, die man verpasst, die alles entscheidenen sein. Soll man also das Risiko eingehen? Seit Samstag weiß unser Autor: Nein.
Ihr habt das legendäre Siegtor eures Herzensvereins verpasst, weil Ihr pinkeln musstet? Oder den spektakulären Fallrückziehertreffer des gegnerischen Torhüters, weil ihr nur kurz ein Bier holen wolltet? Dann bewerbt euch für den Award der Awards, für den erstmals von der 11FREUNDE-Redaktion gekürten „Goldenen Pisser“. Schickt Eure Geschichte an verpasst@11freunde.de. Wir freuen uns auf eure Missgeschicke.
Es gibt Schmerzen, die lässt man an sich vorüberziehen. Weil man weiß: Irgendwann wird es besser. Ungefähr einmal im Monat ist das so. Dann tritt man, maximal arg- und ahnungslos, etwa leicht verpennt beim Verlassen des Schlafzimmers, mit dem Fuß volle Möhre gegen den Türrahmen. Man ist jetzt zwar wach, aber der kleine Zeh fühlt sich an, als wäre er aufgeplatzt und gleichzeitig abgesprengt worden.
Kurz traut man sich gar nicht hinzuschauen, so übel könnte es sein. Doch dann, sobald einen die Kraft zum Fluchen verlässt, schaut man doch hin. Und sieht, dass der Fuß noch verblüffend ganz ist – nicht mal ein Kratzer lässt sich finden, mit dem sich der Geschichte später, beim Erzählen, mehr Brisanz verleihen ließe. Vorsichtshalber hält man den Zeh trotzdem noch ein wenig fest. Und wartet. Irgendwann wird der Zeh sehr warm, der Schmerz verflüchtigt sich, und für einen Monat hat man seine Ruhe. Ein schönes Gefühl.
In der 30. Minute kann ich nicht mehr
Beim Pinkeln ist es anders. Denn den Druck auf die Blase kann man nicht an sich vorüberziehen lassen. Im Gegenteil. Die Qualen werden mit der Zeit immer schlimmer. Auch weil man weiß, dass es einen Ausweg gibt, einen ganz einfachen sogar. Man müsste sich lediglich erleichtern. Den Schmerz Zentiliter für Zentiliter aus dem Körper fließen lassen. Das Problem: Am nötigsten pinkeln muss man meist in Situationen, in denen man eigentlich nicht darf. Oder aus logistischen Gründen schlicht nicht kann. Auf einer langen Fernbusfahrt zum Beispiel, wenn die Chemietoilette genauso defekt ist wie der Straßenbelag, weswegen der Bus hoppelt und springt und mit ihm der Schmerz im unteren Bauch. Oder aber im Fußballstadion. Wenn der Druck immer dann zu groß wird, wenn noch nicht oder nicht mehr Halbzeitpause ist.
An diesem Samstag geht es mir so. Hertha spielt gegen Gladbach, nach dem Spiel wird in Berlin und sogar in ganz Deutschland von einer „wie entfesselt aufspielenden“ Hertha die Rede sein, von einem „Offensivfeuerwerk“. Doch bevor es so weit ist, bevor Duda und Dilsrosun die Leute auf der Haupttribüne im Olympiastadion zum ersten Mal seit Jahren von den Sitzen reißen, plätschert das Spiel Mitte der ersten Hälfte unspektakulär vor sich hin. Und wenn etwas plätschert, steigt naturgemäß der Druck auf die Blase. In der 30. Minute kann ich nicht mehr.
Und weil das Risiko normalerweise klein ist, bei einem Hertha-Spiel etwas zu verpassen, ziehe ich einfach los. Weg von meinen Freunden in der Kurve, hin zu den Pissoirs. Das 0:1, den Elfmeter von Hazard, bekomme ich noch mit, auf der Treppe ganz oben in der Kurve ärgere ich mich gemeinsam mit einem Kuttenträger. Fluchend gehe ich weiter zur Toilette. Noch während der Schmerz meinen Körper verlässt, wird das Stadion laut. Ich kleckere, renne raus und sehe die Zeitlupe vom 1:1 auf der Leinwand. Mist. Beziehungsweise: toll.
Werdet der „Goldene Pisser“
Jetzt, denke ich, wo der Druck weg ist und ich eh schon alles verpasst habe, kann ich auch noch Bier holen. Als ich mit dem Rücken zum Spiel in der Schlange stehe, explodiert das Stadion wieder. 2:1 für Hertha, Lazaro, Spiel gedreht, Traumfußball, Wahnsinn. Zum ersten Mal seit Jahren richtiger Fußball. Es war furchtbar.
Am Tag darauf erzählte ich den Kollegen von meinem Unglück. Von denen jeder wiederum eine eigene Geschichte vom Verpassen kannte. Die schlimmste geht so: Der Cousin eines Kollegen war bei der WM 2014 in Brasilien und hatte für jedes Deutschland-Spiel Karten gekauft. Das Halbfinale, das 7:1, das vielleicht epischste Spiel der deutschen Fußballgeschichte, verpasste er, weil er Streit mit seiner Freundin hatte. Und im Finale, diesmal hatte er es immerhin ins Stadion geschafft, kam irgendwann der Schmerz. In der 112. Minute konnte er nicht mehr. Und ging pinkeln. Eine Minute später traf Götze.
Für alle im Stadion ein Moment, den sie nie vergessen werden. Für den Cousin meines Kollegen auch. Weswegen ein weiterer Kollege kurz darauf die geniale Idee hatte, den größten Pechvogel zu würdigen. Mit einem Preis für die schlimmste Geschichte, für den größten verpassten Moment, für das traurigste Schicksal. Weshalb das hier ein Aufruf ist, euch zu bewerben. Werdet der „Goldene Pisser“.