Dimitri Payet wurde zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate von einem Wurfgeschoss aus der Fankurve getroffen. Unklar ist jedoch, ob dahinter strukturelle Probleme stecken. Frankreich diskutiert.
In französischen Medien halten sich derzeit verschiedene Theorien, die eine Erklärung der Gewaltausbrüche liefern sollen. Häufig wird dabei ein Zusammenhang mit der Corona-Krise hergestellt. Es sei doch möglich, dass sich über anderthalb Jahre des Zuschauerausschlusses und wiederkehrender Lockdowns Frust bei den Fans angestaut habe, der sich nun entlade. So einfach ist die Erklärung also? Das werde sich zeigen, sagt Hourcade. Sollten die Ausschreitungen auf angestautem Frust basieren, müssten sie nach einer Weile auch wieder abebben. Nämlich dann, wenn der Frust abgebaut ist.
Nur will sich natürlich niemand darauf verlassen, dass sich die Probleme demnächst von alleine lösen. Auch schützt die Identifizierung möglicher Ursachen nicht vor Bestrafungen. An genau diesem Punkt entbrennen gerade weitere Diskussionen. Es stellt sich die Frage, welche Maßnahmen wirklich auf die Wurzel eines nicht vollends durchleuchteten Problems abzielen können.
„Seit den schlimmen Vorfällen beim Spiel zwischen Nizza und Marseille und den darauffolgenden Halbmaßnahmen war jedem klar, dass die Botschaft, die ausgesendet wurde, kurz- oder mittelfristig katastrophal und gefährlich sein würde“, schreibt Vincent Duluc vom Fachblatt „L’Équipe“. Die unzureichende Aufarbeitung des Nizza-Eklats habe die darauffolgenden Gewaltausbrüche sogar begünstigt. Für den Journalisten ist klar, dass es eine Mischung aus individuellen und kollektiven Strafen braucht, um ähnliche Ereignisse künftig zu verhindern. Allerdings müssten diese auch auf Basis klarer Kriterien angewendet werden. Gerade dazu sei es nach dem Spielabbruch in Nizza nicht gekommen, was Duluc drastisch als „Ursünde des französischen Fußballs“ bezeichnet.
Hourcade vertritt eine ähnliche Linie. Der Fanforscher bekräftigte, dass es im Bereich der Fangewalt keine „Wunderlösung“ gebe – egal, ob es sich nun um strukturelle Probleme oder eine Reihe von Einzelfällen handle. Er fordert „ein hartes Durchgreifen bei schwerwiegenden Verhaltensweisen.“ Daneben komme es aber besonders auf den Dialog zwischen allen Akteuren und die Benennung der Art der Gewalt an. Für Hourcade gibt es einen elementaren Unterschied zwischen Kämpfen unter Fans und etwa Flaschenwürfen in Richtung der Spieler.
Ein Umstand, der auch bei der Aufarbeitung und dem Aussprechen von Strafen berücksichtigt werden müsse. Ganz grundsätzlich gelte jedoch: Individualstrafe vor Kollektivstrafe. Hourcades Argumente klingen vernünftig, können jedoch nur unter Vorbehalt gelten, solange die Ursprünge der aktuellen Situation nicht vollends geklärt sind – mit dieser Aufgabe wird sich der französische Fußball wohl noch eine Weile auseinandersetzen. Dimitri Payet dürfte das höchstens am Rande interessieren. Solange die Maßnahmen am Ende dazu führen, dass er wieder in Ruhe zum Eckball schreiten kann.