Dimitri Payet wurde zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate von einem Wurfgeschoss aus der Fankurve getroffen. Unklar ist jedoch, ob dahinter strukturelle Probleme stecken. Frankreich diskutiert.
Dimitri Payet geht an der Eckfahne zu Boden. Ein Wurfgeschoss hat Marseilles Kapitän am Rücken getroffen. Doch ist der Schmerz nicht so groß wie die Wut. Payet springt auf, schnappt sich eine der Wasserflaschen, mit denen er zuvor von den Nizza-Fans bedacht worden war, und schleudert sie zurück in Richtung des Fanblocks. Erst einmal in Rage, greift sich der 35-Jährige gleich die nächste Flasche – und die Lage eskaliert. Fans stürmen auf das Feld, wüste Rangeleien brechen aus. OM-Fitnesstrainer Pablo Fernandez kommt herbeigestürmt, um einen Nizza-Anhänger per gezieltem Faustschlag niederzustrecken. Etwas später an diesem 22. August wird das Mittelmeerderby zwischen OGC Nizza und Olympique Marseille abgebrochen.
Geschehnisse, die nicht ohne Konsequenzen blieben. Einem ersten kollektiven Aufschrei folgten Forderungen nach harten Sanktionen. Letztlich wurde Nizza mit dem Abzug von zwei Punkten – einer davon auf Bewährung – sowie drei Heimspielen vor leeren Rängen verurteilt. Marseilles Fitnesstrainer Fernandez wurde bis zum Ende der Saison gesperrt. Zudem kassierten die OM-Profis Dimitri Payet und Álvaro González ein beziehungsweise zwei Spiele Sperre. Ein nachhaltiger Effekt stellte sich jedoch nicht ein. Das hat spätestens der vergangene Sonntag gezeigt.
Keine fünf Minuten war die Partie zwischen Lyon und Marseille alt, als sich der nächste Spielabbruch der Ligue 1 anbahnte. Wieder war Payet zu einem Eckball angetreten, wieder hatte ihn eine Flasche getroffen, diesmal am Kopf. Nach einigen Diskussionen entschied Schiedsrichter Ruddy Buquet, die Partie nicht wieder anzupfeifen. Auch wenn sich am Sonntag keine Szenen wie in Nizza angeschlossen haben, stellen sich nun dringende Fragen: Warum schon wieder Payet? Und: Hat der französische Fußball ein strukturelles Problem?
Oberflächlich betrachtet sind beide Fragen mit einer kurzen Antwort abgehandelt. Payet galt schon immer als streitbarer Profi, der insbesondere eigene Vorteile im Blick zu haben schien – und damit an verschiedenen Stellen aneckte. Keinesfalls vertretbar, aber doch begründbar, dass bei seinen Eckstößen mehr Gegenstände flogen, als sie leider ohnehin regelmäßig fliegen. Es zeigt sich allerdings schnell, dass es mit einer oberflächlichen Betrachtung nicht getan ist. Denn Payet spielt in der Sache nur eine Nebenrolle. Der Offensivspieler, der bereits zwei Vereinswechsel erzwang und sich weigerte, in Zeiten der tiefsten Coronakrise auf einen Teil seines fürstlichen Gehalts zu verzichten, ist nicht mehr als eine Reizfigur inmitten eines vielschichtigen Problems.
„Normalerweise beruhigt sich die Lage nach besonders schweren Zwischenfällen“, sagte Fanforscher und Soziologe Nicolas Hourcade kürzlich gegenüber „France bleu“. Nach den Geschehnissen in Nizza sei das jedoch nicht der Fall gewesen. Tatsächlich war sogar das Gegenteil zu beobachten: noch schwerere Ausschreitungen. Mitte September kam es bei der Partie der Nordclubs RC Lens und OSC Lille zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Fanlagern, die sich bis auf den Rasen erstreckten. Eine knappe Woche später lieferten sich Anhänger von Angers und Marseille Schlägereien im Tribünenbereich.
Eine derartige Häufung von Ausschreitungen habe es im französischen Fußball seit der Saison 2009/10 nicht mehr gegeben, so Hourcade weiter. Trotzdem könne noch nicht von strukturellen Problemen gesprochen werden: „Es ist zu früh, um das zu sagen.“