Ein Fußballfan aus der Schweiz sucht den Wow-Effekt beim Fußball und schließt sich für zwei Monate einer Ultragruppe in Indonesien an. Es ist eine Reise in eine faszinierende, aber auch gefährliche Welt.
Die Ultras mustern ihn. Sie haben ihm eine Unterkunft in einem Studentenwohnheim organisiert, siebter Stock, Küche, Bad, Balkon. Sie haben ihn zu einem Treffen ihrer Gruppe eingeladen. Sie haben gesagt, ja, komm nach Indonesien, wir nehmen dich mit. Sie sind nicht unfreundlich, aber es ist auch nicht so, dass sie ihm jubelnd um den Hals fallen, als sie ihm zum ersten Mal begegnen. Vielleicht sind sie skeptisch, Ultras halt, vielleicht sehen ihn einige als Eindringling, vielleicht sind sie auch nur schüchtern. Jedenfalls kommen Andrin Brändle schon nach ein paar Tagen Zweifel, ob diese Reise eine gute Idee ist. Auch die neue Umgebung ist eine Herausforderung, der Verkehr, das Chaos auf den Straßen, kaum jemand, der Englisch spricht. „Ich dachte bald: Hier hat wirklich niemand auf dich gewartet!“
Andrin Brändle ist 24 Jahre alt und kommt aus St. Gallen. Im Sommer 2019 hat er zwei Monate in Indonesien verbracht, und zwar nicht an den Traumstränden Balis oder anderen touristischen Orten, sondern in der 500.000-Einwohner-Stadt Yogjakarta auf der Insel Java. Er fuhr tausende Kilometer durch das Land, die meiste Zeit an der Seite von einheimischen Fußball-Ultras. Warum macht das jemand? Warum reist ein junger BWL-Student aus einem beschaulichen Städtchen am Bodensee ans andere Ende der Welt, um in baufälligen Stadien Fußballspiele von PSS Sleman, Persewar Waropen oder Persib Bandung zu sehen?
Die Geschichte beginnt auf den Fußballlichtspielen in St. Gallen. Auf dem Filmfestival sieht Brändle eine Dokumentation über indonesische Ultras. Er unterhält sich mit den beiden Filmemachern über asiatische Fankultur und taucht ein in eine Fußballwelt, über die im Westen kaum etwas bekannt ist. Sie wirkt zügellos und ursprünglich, wie das genaue Gegenteil zu den sauberen und reglementierten Mulitplex-Arena-Events, die wir in Europa kennen.
Bei seinen Recherchen stößt Brändle auch auf die Ultras von PSS Sleman. Der Verein ist in einem Vorort von Yogjakarta beheimatet. Die Mannschaft spielt damals noch in der Zweiten Liga, aber der Support macht ordentlich was her, findet Brändle, als er sich Clips auf Youtube anschaut. Außerdem sind die Vereinsfarben Grün und Weiß, wie beim FC St. Gallen.
Der Heim-Capo von PSS Sleman
Über Twitter schreibt er die „Brigata Curva Sud“ an, eine Art Dachvereinigung der aktiven Sleman-Fans, die sehr professionell organisiert ist. Bald steht er im regen Austausch mit Liston, einem Mann Anfang 30, der gutes Englisch spricht und ihm auch später viele Türen öffnen wird. Er ist einer der Gründer der Ultras in Sleman, ein „Orang dalam“, wie man in der Landessprache Bahasa Indonesia sagt. Ein Insider.
In den nächsten Wochen sieht Brändle im Internet, wie Sleman Spiel um Spiel gewinnt und am Ende der Saison in die Erste Liga aufsteigt. Er packt seinen Rollkoffer und fliegt los. Einmal um die halbe Welt.
„Der FC St. Gallen war das Größte, was wir uns vorstellen konnten“
Schon als Kind machte er sich gerne auf den Weg, wenn er etwas spannend fand. Er wuchs in einem Dorf bei St. Gallen auf, 45 Minuten hinter der Stadt, wo der ruhmreiche Fußballverein beheimatet ist. „Der FC St. Gallen war das Größte, was wir uns vorstellen konnten“, sagt er. „Wir wussten nur eins: Da wollten wir hin!“ Weil er aber erst zwölf Jahre alt war und seine Eltern wenig Interesse an Fußball hatten, schmiedete er mit einem Freund einen Plan: Beide erzählten ihren Eltern, dass vom jeweils anderen der Vater oder die Mutter mitkäme zum Spiel. In Wahrheit aber standen die Jungs zu zweit im Block, fasziniert vom Lärm, den Farben, den Gerüchen. „Ich fand es toll, wie die Fans mit ihren Anfeuerungen das Spielgeschehen beeinflussen wollten – und es oft auch konnten.“ Eines Tages schrieb seine Mutter an die Eltern des Freundes ein Dankesbrief, der Freund fischte ihn gerade noch rechtzeitig aus dem Briefkasten.
In den kommenden Jahren vergrößerte sich Brändles Blick auf den Fußball. Einmal war er beim FC Brentford im alten Griffin Park, sie standen ganz nah am Spielfeld, sie hörten das Schnaufen der Spieler, das Getöse der Fans. Es begannen die Jahre des Reisens. Brändle wurde Groundhopper, kein Oberfreak, sagt er, aber klar, er führe eine Excel-Tabelle. Bis heute hat er über 800 Spiele gesehen und 46 Länder bereist. Er war in Jordanien, Weißrussland oder Gibraltar. Er begann einen Blog zu schreiben und für die Fanszene in St. Gallen zu fotografieren, aber irgendwann, so sagt er, fehlte ihm der Wow-Effekt beim Fußball, das Wilde, das Überraschende. Er überlegte, dass er gerne mal ein besonderes Abenteuer in einem Buch festhalten würde. Allein unter fremden Ultras. Eine teilnehmende Beobachtung.
Aber wo geht das überhaupt noch? Wo kann man noch Abenteuer im Fußball erleben?
Profifußball sieht fast überall auf der Welt gleich aus. Die Arenen haben den Charme von Shopping-Malls, sie sind seelenlose Bauwerke, die im Grunde nur in ihrer Größe variieren. Alles ist genormt und durchdesignt. Kein Zufall, keine Spontaneität, dafür die immergleiche Remmidemmimusik, die immer gut gelaunten Stadionsprecher und die immer tätowierten Modellathleten. Zu Auswärtsspielen fährt man mit dem Regionalexpress, und die größte Aufregung ist es, wenn der Anschlusszug eine Verspätung von drei Minuten hat.
„Indonesien ist eine eine unglaubliche Nation“
Indonesien dagegen: 17.000 Inseln, 360 Ethnien, 719 Sprachen, 250 Millionen Menschen. Alleine in der Metropolregion Jakarta sollen über 32 Millionen leben. An manchen Orten sieht es aus, als würde das Land provisorisch von Ersatzteillagern, Wellblechhütten, Baustellen, Moscheen, Mopeds, Lärm und einer unerträglichen Hitze zusammengehalten werden. Die Schriftstellerin Elizabeth Pisani hat Indonesien mal eine „unglaubliche“ Nation genannt, und vermutlich gibt es kein Adjektiv, das dieses Land besser beschreibt.