Fernando Llorente wechselt zur SSC Neapel. Für Tottenham schoss er nicht viele Tore, war nicht oft gefragt und fiel trotz fast zwei Metern Körpergröße nicht besonders auf – wie so oft in seiner Karriere. Warum er dennoch der perfekte Einwechselspieler ist.
Selten in seiner Karriere stand Fernando Llorente so sehr im Mittelpunkt des europäischen Fußballs wie am 17. April 2019: In einem turbulenten Champions-League-Viertelfinale lag er mit den Tottenham Hotspurs mit 2:4 gegen Manchester City zurück. Doch nur ein weiteres Tor würde den Londonern nach dem 1:0‑Heimsieg im Hinspiel reichen, um ins Halbfinale einzuziehen.
Es passierte in der 73. Minute, als Fernando Llorente nach einer Ecke für Tottenham hochstieg – was viel bedeutet, denn ohne die Erde zu verlassen, ragt er bereits 193 Zentimeter in die Höhe – und den Ball ins Tor bugsierte. Mit der Hüfte, die sich dabei auf Kopfhöhe von Citys staunend zuschauendem Verteidiger Aymeric Laporte befand.
Es sollte Llorentes letztes Tor im Trikot der Spurs sein. Nun wechselte der inzwischen 34 Jahre alte spanische Stürmer zur SSC Neapel. Und damit zum sechsten Verein in sechs Jahren. Das ist eine ganze Menge – man würde sich nicht wundern, wenn irgendein beliebiges Team in der Champions League zur Schlussphase einer Partie Llorente einwechselte, nachdem der Gegner ihn bereits zur Pause gebracht hätte.
Mal eben Harry Kane ersetzt
Was allerdings auch damit zusammenhängt, dass Llorente in der Regel eingewechselt wird. Zumindest bei Tottenham war es so. In der Liga kam er meist von der Bank, im erwähnten Spiel in der Champions League gegen Manchester City spielte er nur in der zweiten Hälfte. Angesprochen auf seine Rolle im Schatten Harry Kanes sagte Llorente zu „ESPN“ nach der Partie: „Es ist wirklich schwierig, weil Harry einer der besten der Welt ist. Es kann einen großen Unterschied ausmachen, wenn ein Spieler das Vertrauen des Trainers genießt.“
Im Winter dieses Jahres hatte es noch Gerüchte gegeben, die Spurs wollten Llorente verkaufen, bevor sein Vertrag im Sommer auslaufen würde. Llorente selbst war offenbar unzufrieden mit seinen überschaubaren Einsatzzeiten. Doch er blieb geduldig und bekam seine Chance: Harry Kane, Tottenhams Kapitän und Torgarantie, zog sich im Januar einen Bänderriss im Sprunggelenk zu und fiel etwas länger als einen Monat aus.
Und Fernando Llorente, der Stürmer, der bis dahin in 22 Saisonspielen insgesamt nur für 36 Minuten auf dem Platz gestanden hatte, ersetzte ihn, als wäre es nichts. In den vier Partien ohne Kane durfte er dreimal von Beginn an auflaufen, bereitete drei Tore vor und erzielte einen wichtigen Siegtreffer gegen Watford. Tottenham gewann alle vier Spiele. Auch in der Champions League gab es einen 3:0‑Sieg gegen Borussia Dortmund, der Spanier traf kurz vor Schluss.
Llorentes Karriere besteht aus einigen zweiten Plätzen und Trophäen, an deren Gewinn er eher im Hintergrund teilhatte. Bei Athletic Bilbao schaffte er es als Jugendlicher zu den Profis, er schoss 111 Tore in 327 Spielen. 2009 verlor er mit den Basken das Finale der Copa del Rey gegen Barcelona, 2012 das Endspiel um die Europa League gegen Atlético Madrid. Mit Juventus Turin unterlag er im Champions-League-Finale 2015, mit Tottenham im diesjährigen gegen Liverpool. Zwischendurch hatte er zwei wenig beachtete aber perösnlich durchaus erfolgreiche Spielzeiten, eine beim FC Sevilla (sieben Tore), eine in Swansea (15 Tore). Und in der Nationalmannschaft? Bei der U20-Weltmeisterschaft in den Niederlanden im Jahr 2005 wurde er mit fünf Toren zweitbester Torschützer (hinter einem gewissen Ausnahmespieler aus Argentinien, über den alle redeten), 2010 mit einem Kurzeinsatz Weltmeister, zwei Jahre später ohne eine einzige Spielminute Europameister.
Landsmänner wie Andrés Iniesta waren dennoch voll des Lobes für Llorente, Gerard Piqué nannte ihn einen „beeindruckenden Stürmer“, unter dessen physischen Fähigkeiten er selbst in der Liga zu leiden hätte. Dass er für die Spanier aber insgesamt nicht viel spielte, überrascht nicht: Als klassischer Mittelstürmer, dessen Stärken vor allem bei hohen Bällen zum Vorschein kommen, passte er nicht in das System der technisch versierten Kurzpassmaschinen, die sich bis in den Fünfmeterraum kombinierten.
Zu Bilbao-Zeiten bezeichnete der „Kicker“ Llorente einmal als “Edel-Bankdrücker“. Dabei war er dort eigentlich jahrelang unangefochtener Stammspieler gewesen, bis er sich nach der Europameisterschaft 2012 verletzte, in Aritz Aduriz einen starken Konkurrenten bekam, schwach trainierte und sich mit Trainer Marcelo Bielsa in die Haare kriegte. Er wechselte nach Turin, wo er zwar weiter Tore schoss, sich aber in vielen wichtigen Spielen und auch in Sachen Aufmerksamkeit hinter Carlos Tévez und Álvaro Morata anstellen musste. In Sevilla und Swansea war er später zwar meist Stammspieler – diese Vereine haben allerdings einen anderen Stellenwert als der italienische Rekordmeister aus Turin und der englische Champions-League-Teilnehmer aus Tottenham. Und so fiel Fernando Llorente trotz knapp zwei Metern Körpergröße nicht mehr besonders auf.
Schicksal: Hintergrund
„Ein Mittelstürmer fällt normalerweise auf, wenn er trifft. Aber er hat vorzügliche Arbeit geleistet“, sagte Vicente del Bosque einmal über Llorente, nachdem dieser in einem seiner wenigen Länderspiele für die spanischen Nationalmannschaft das tat, was ihn auszeichnet: Mit seinem kräftigen Körper Bälle festmachen, ablegen und dabei zusehen, wie andere sich ins Rampenlicht schießen.
Die vier Wochen bei Tottenham, in denen Harry Kane verletzt pausieren musste, sollten Llorentes beste in London sein. Nach Kanes Rückkehr landete der Spanier wieder dort, wo er zuvor die meiste Zeit verbracht hatte: Auf der Ersatzbank. Er wurde zwar regelmäßig eingewechselt, traf aber nicht mehr. Bis zu jenem 17. April, dem Tag der besten Champions-League-Partie der vergangenen Spielzeit, in der er zum Mann des Abends wurde.
In Neapel wird Fernando Llorente sich aller Voraussicht nach hinter Arkadiusz Milik und Dries Mertens anstellen müssen. Aber: Der Klub spielt in der Champions League. Und was wäre dieser Wettbewerb ohne eine Einwechslung von Fernando Llorente?