U21-Coach Stefan Kuntz reist mit seinem Team als Titelverteidiger zur EM nach Italien. Rund läuft es beim DFB-Nachwuchs derzeit nicht: Es mangelt an Top-Talenten, Spieler bekommen zu wenig Einsatzzeiten in den Klubs und im Angriff fehlt der Knipser.
Ein Problem, das der DFB in den neunziger Jahren schon einmal hatte, als nach der WM 1990 und der EM 1996 die Nachwuchsförderung komplett verschlafen wurde.
Aber wie Sie wissen, haben die Ergebnisse nach 1996 dazu geführt, dass über Reformen nachgedacht wurde und ab 2000 ein flächendeckendes Nachwuchsleistungssystem ins Leben gerufen wurde. Etwas Ähnliches findet seit gut einem Jahr statt. Eine Kommission von DFL und DFB erarbeitet gerade Handlungsempfehlungen für die Nachwuchsarbeit, die Ende Juni den Bundesligavereinen präsentiert werden.
Was wird denn da so empfohlen?
Sehen Sie es mir nach, wenn ich dem jetzt nicht vorgreifen möchte. Nur so viel: Man kann dabei schon von einer Reform sprechen.
In der aktuellen Situation besteht demnach Handlungsbedarf.
Als ich nach der EM 2017 den aktuellen Jahrgang – Stichtag 1. Januar 1996 – bei der Niederlage in Paderborn gegen Ungarn erlebte, sagte ich zu meinen Kollegen: „Boah, da kommt viel Arbeit auf uns zu.“ Wenn ich jetzt eineinhalbJahre später erlebe, wie sich beispielsweise Maxi Eggestein und Luca Waldschmidt entwickelt haben, empfinde ich das schon ganz anders. Was ich sagen will: Wenn Spieler im Verein das Vertrauen bekommen, kann sich auch in kurzer Zeit vieles zum Positiven entwickeln.
Aber wie kann es sein, dass der DFB, der sich stets seiner herausragenden Organisation rühmt, gerade beim Nachwuchs wichtige Entwicklungen übersieht?
Möglich, dass nach den vielen Erfolgen im Verband bei einigen das Gefühl aufkam: „Läuft doch super.“ Die anderen Nationen haben sich an uns orientiert, aufgeholt und in ihren Nachwuchsplanungen die Schwachstellen, die wir im System haben, von vornherein weggelassen. So entsteht der Eindruck, dass wir ein wenig Boden verloren haben.
Der größte Sportfachverband der Welt sollte derartige Entwicklungen aber voraussehen.
Der Fußball ist hochkomplex und in den letzten Jahren wahnsinnig gewachsen. Ein junges Talent ist in dieser Gemengelage wie ein Dampfer, der von Schleppern aus dem Hafen gezogen wird – und jeder zieht in eine andere Richtung. Die Ausbildung findet in den Nachwuchszentren der Vereine statt, aber dann gibt es den Landesverband, die Schule, den Berater, den Verbandstrainer, den Vereinstrainer, den Nationaltrainer – und jeder versucht seinen Einfluss auf den Spieler geltend zu machen.
Wo sind denn die Schwachstellen im DFB-System?
Es gibt in jedem Land etwas andere Strukturen. Beispiel: Kylian Mbappé. Der hat als junger Spieler die komplette Woche beim Trainingszentrum des französischen Verbands verbracht und fuhr freitags zu seinem Klub, wo er am Wochenende auflief. So etwas gibt es bei uns nicht.
Würden Sie sich eine Verbandsnachwuchsschule wie in Frankreich wünschen?
In unserer Struktur ist so etwas nicht vorstellbar.
Was beherrschen die Engländer – aktuell U17- und U20-Weltmeister – in der Nachwuchsarbeit besser als die Deutschen?
Das ist ein vielfältiges Paket. Nur ein Beispiel: Der englische Verband bezahlt Coaches, die die Jugendtrainer in den Vereinen individuell verbessern. Diese Förderung wird aus dem TV-Geld-Topf zur Verfügung gestellt. Aber auch was Zusammensetzung der Kader betrifft, werden wir es immer wieder erleben, dass Spieler in England, Frankreich oder den Niederlanden in bestimmten Jahrgängen unseren in der körperlichen Entwicklung voraus sind. Dennoch sind wir nach wie vor in der Lage, mitzuhalten. Und gerade in der Talentförderung geht es nicht allein um Ergebnisse, sondern auch um die Frage, was ein Ausscheiden oder ein verlorenes Finale in der charakterlichen Entwicklung eines Spielers wert ist.