U21-Coach Stefan Kuntz reist mit seinem Team als Titelverteidiger zur EM nach Italien. Rund läuft es beim DFB-Nachwuchs derzeit nicht: Es mangelt an Top-Talenten, Spieler bekommen zu wenig Einsatzzeiten in den Klubs und im Angriff fehlt der Knipser.
Das heißt, Sie stellen im Zweifel den Lerneffekt über den sportlichen Erfolg?
Die Persönlichkeitsentwicklung eines jungen Spielers ist mindestens so wichtig wie die Athletik und das taktische Verständnis. Das soll nicht heißen, dass ich gern verliere. Aber ich glaube, dass bestimmte Negativerfahrungen einen Menschen weiterbringen. Und wir können mit Stolz sagen, dass wir vielleicht nicht jedes Turnier gewinnen, aber im Gegensatz zu anderen Nationen eine hohe Zahl von Abiturienten im Team haben. In unseren Eliteschulen sind wir uns bewusst, dass es passieren kann, dass einer mit 14, 16 und 18 Jahren ein Toptalent ist, aber mit 20 plötzlich den Fuß nicht mehr vor der anderen bekommt. Und dann ist es gut, wenn er neben dem Fußball eine Ausbildung gemacht hat und eine andere Laufbahn starten kann.
Warum stellt die DFL kein Geld für die Weiterbildung von Jugendtrainern zur Verfügung? Letztlich würden doch alle Vereine davon profitieren.
Da prallen Interessen aufeinander. In England gibt es nun einmal viel mehr TV-Geld. Aber warten Sie es ab, Ende Juni kommen die Reformvorschläge. Und dann werden wir sehen, was die Klubs davon übernehmen.
Können wir dennoch festhalten, dass dem DFB zuletzt einige Jahrgänge verloren gegangen sind?
Was wir sagen können, ist, dass wir in einigen Jahrgängen nicht mehr auf Anhieb vier, fünf Spieler der Kategorie Kai Havertz haben. Anders gesagt: 17‑, 18- und 19-Jährige, die direkt zu den Profis durchschießen, gibt es weniger als in den Jahren zuvor.
Heißt das im Umkehrschluss, dass die deutsche Nationalelf erst einmal kein Abo mehr aufs Halbfinale bei großen Turnieren haben wird?
Die Prognose fällt mir schwer. Denn wir haben eine junge Mannschaft, die 2017 den Confed Cup gewonnen hat. Dass da etliche gestandene Spieler dabei sind, hat zuletzt auch das Spiel in der EM-Quali in den Niederlanden gezeigt. Und von der U21 kommen demnächst noch ein paar gute dazu.
Aber in fünf Jahren wird’s dann dünn?
Keine Ahnung, auch da müsste ich die Glaskugel befragen.
Auf welchen Positionen fehlen in Deutschland denn aktuell die Alternativen?
Wenn ich meinen Kader anschaue, würde ich am ehesten sagen: im Angriff. Da habe ich derzeit keinen, der in seinem Verein Stammspieler ist und in der Saison immer seine 15 Hütten macht. Das ist eine Position, die uns fehlt.
Inwieweit wirkt sich eigentlich der Rücktritt von Reinhard Grindel auf Ihre Arbeit aus?
Inhaltlich überhaupt nicht, aber natürlich trägt diese Causa dazu bei, dass der Reformwille im Verband gestärkt und das „Weiter-So“-Gefühl abgeschwächt wird. Und das ist eine gute Basis.
Sie selbst haben schon als 20-Jähriger zwischen 32 und 34 Spiele pro Saison in der Bundesliga bestritten. Ist es normal, dass deutsche Talente heute erst später in Gang kommen?
Meine Ausbildung war ganz anders. Wir konnten uns frei als Persönlichkeit entwickeln, weil wir mitten im Leben standen. Heute haben die Jungs im NLZ einen komplett durchgetakteten Tagesablauf, da bleibt fürs normale Leben oft wenig Zeit. Dafür sind die Jungs heute vom Athletischen und Fußballerischen optimal geschult. Wir müssen zusehen, dass die mentale Entwicklung damit Schritt hält. Kurz gesagt: Wenn einer Talent hat, muss er auch die Widerstandsfähigkeit und den Ehrgeiz ausbilden, um immer weiterzukommen. Nur wer versteht, dass man als Profi jeden Tag aufs Neue an sich arbeiten muss, schafft den Sprung vom Talent zum Bundesligaspieler und nimmt irgendwann auch die Hürde zum Nationalspieler. Aber das gelingt nun mal nicht jedem herausragenden Talent.
Sie waren ein Spieler, der stark über den Willen kam. Ist das der Grund, warum Sie diesen Job machen?
Stimmt, mein Talent war allenfalls Durchschnitt, was ich damit erreicht habe, war weit überm Schnitt. Deswegen bin ich der Ansicht, dass Mentalität genauso viel mit Talent zu tun hat wie ein starker rechter Fuß oder Passgenauigkeit. Wie sonst ist es möglich, dass ein Land wie Kroatien mit acht Millionen Einwohnern ein WM-Finale erreicht?
Gibt es Bereiche, in denen Sie Ihre jungen Kicker als 56-Jähriger nicht mehr verstehen?
Das fängt bei der Kabinenmusik an und hört beim Friseur auf. Letzte Frage: Welcher von Ihren Jungs wird bei der WM 2022 oder der EM 2024 – vorausgesetzt er verletzt sich nicht – sicher spielen? Wenn ich jetzt Namen nenne, hilft es keinem der Jungs. Deswegen lasse ich es bleiben.
Und wie weit werden Sie es im Juni in Italien schaffen?
Unser Ziel ist, die Gruppenphase zu überstehen und ins Halbfinale vorzudringen. Und dann schauen wir mal …
Das Interview mit Stefan Kuntz erscheint flankierend zu unserer großen Heftreportage „Die Erben Mbappés“, für die wir die einige Tage die Eliteschule des französischen Verbands in Clairefontaine besucht haben. Jetzt in Ausgabe#211. Überall, wo es Zeitschriften gibt und im 11FREUNDE-Shop