Die Lilien haben ihren Trainer Norbert Meier entlassen. Und verraten sich damit selbst.
Märchen enden gut. Außer im Fußball. Das liegt schon allein daran, dass sich der Fußball immer weiter dreht. Wusste schon Oliver Kahn, Bruder Grimm im Geiste: Weiter, immer weiter. So wird das Happy End zwangsläufig zur Momentaufnahme, gültig nur bis zur kommenden Saison. Dann wird es Zeit für das nächste Märchen. Oder das nächste Drama.
In Darmstadt haben sie in den vergangenen Jahren Märchen an Märchen geheftet. Nach der Verpflichtung von Dirk Schuster im Dezember 2012 gab es vier Jahre lang nur eine Stoßrichtung: vorwärts. Zunächst schaffte es der Klub, zugleich vom finanziellen Kollaps bedroht, den Abstieg in die Bedeutungslosigkeit der vierten Liga zu verhindern. Wenn auch nur dank des Lizenzentzugs der Offenbacher Kickers.
Danach folgte Aufstieg auf Aufstieg auf Aufstieg. Eine Erfolgsgeschichte, an deren Ende in der vergangen Saison der vorab für unmöglich erachtete Klassenerhalt in der Bundesliga stand.
Der ganze Verein ein einziger Familienbetrieb
Mit einem Kader, der vor dem ersten Spieltag gelinde gesagt eher als Resterampe daherkam. Ein Kader, in dem Aussortierte, Unterschätzte und Drittliga-Helden zu einer Art Über-Ich von Kollektiv verschmolzen. Eine Mannschaft, die keine Chance hatte und bereit war, sie zu nutzen. Wir gegen den Rest der Welt.
In einem Umfeld, das noch immer dazu angetan ist, Fußballromantiker in nostalgische Rührung zu versetzen. Aber kaum dazu, erfolgreich Bundesliga-Fußball zu spielen. Der ganze Verein ein einziger Familienbetrieb. Die Väter des Trainerstabs übernahmen das Scouting. Die Gattin des Präsidenten kümmerte sich als Mutter der Kompanie um Wohl und Wehe der zusammengewürfelten Truppe.
Wunder gibt es immer wieder, nur nicht in endloser Folge
Am Ende stand ein Happy End, in seiner Größe nur noch vergleichbar mit der wahnsinnigen Meisterschaft von Leicester City. Und der Anfang von etwas Neuem. Dirk Schuster ging, musste gehen. Er hatte das Ende der Fahnenstange des Möglichen nicht nur erreicht, er machte darauf einen Handstand. Er hätte bleiben können, so wie Thorsten Lieberknecht selbst nach dem Bundesliga-Abstieg in Braunschweig geblieben ist. Um den Stein der Unmöglichkeit für weitere Jahre den Berg hinaufzurollen. Immer weiter.
Doch Schuster entschied sich dafür, seine ganz eigene Fahnenstange als Denkmal zu hinterlassen und weiterzuziehen. Dem eigenen Ehrgeiz hinterher, der Möglichkeit folgend, Erfolg nicht nur auf der Basis von Wundern zu feiern. Wer will es ihm verdenken?
Und er war nicht der Einzige, der von Bord ging. Wichtige Spieler folgten ihm. Im Wissen darum, dass das Schiff irgendwann sinken werde, sinken muss. Wunder gibt es immer wieder. Nur eben nicht immer am gleichen Ort oder gar in endloser Folge.
Trotzdem unterlagen Norbert Meier, Holger Fach und eine Reihe neuer Spieler der Versuchung, ihr ganz eigenes Märchen zu schreiben. Gelockt vom Reiz des neuen oder abermaligen Wahnsinns. Für die Spieler ist dieser Traum noch nicht vorbei. Für Meier und Fach schon.
Es ist schier unmöglich jetzt schon abzusehen, woran die beiden gescheitert sind. Darmstadt steht auf dem Relegationsplatz, in Schlagweite zur Sonnenseite der Tabelle. Und wo anders sollte man diesen Klub vermuten?
Nur beim Gastspiel in Dortmund wurde die Mannschaft in dieser Saison mit 0:6 regelrecht abgeschlachtet. Das ist dort schon ganz anderen passiert. Auf der anderen Seite gingen die vergangenen sechs Pflichtspiele allesamt verloren. Eine Pokalblamage bei Viertligist FCA Walldorf inklusive.
Kehren neue Besen wirklich besser?
Inwiefern das nun am Trainer Meier liegt, ist für den Moment dennoch unergründlich. Es bestünde „kein Riss zwischen Trainer und Mannschaft“, betonte Präsident Fritsch im Zuge der Trennung. Wer die Auftritte der Mannschaft auch nur am Rande verfolgt hat, sollte das besser glauben.
Ob es Meiers fehlendes Glück war, ob neue Besen wirklich „besser kehren“ (Präsident Fritsch), oder ob die abermals neu zusammengewürfelte Mannschaft in dieser Saison vielleicht doch einfach nicht gut genug ist, sollen die beurteilen, die es hinterher schon immer gewusst haben.
Ein Dampfer, der erst durch die Entlassungen ins Wanken gerät
Und sollte sich erweisen, dass es an der Qualität des Spielermaterials gelegen hat, dann sicher nicht, weil Meier und Fach einen schlechten Job gemacht hätten. Es ist eben so: Ungeborgenes Gold findet sich im Staub, abseits ausgetretener Pfade. Nur manchmal einfach nicht genug.
Bloß eines stimmt demnach wirklich nachdenklich: Der Zeitpunkt der Trennung. Drei Spiele sind es noch bis zur Winterpause. Bis dahin übernimmt der als Cheftrainer im Profibetrieb gänzlich unerfahrene Ramon Berndroth das Ruder des Dampfers, der sich aktuell zwar in unruhigem Fahrwasser befand, aber so richtig ins Wanken erst durch die jüngsten Entlassungen geraten scheint.
Genügend Drama an der Tabellenspitze
Spätestens bis zum Trainingsauftakt der Rückrunde soll ein Nachfolger für Norbert Meier gefunden werden. Schwer vorstellbar, dass Berndroth in den bis dahin verbleibenden Spielen in Freiburg, gegen die Bayern und in Berlin mehr ausrichten kann, als sein Vorgänger. Gewiss ist hingegen: Die Chance, aus Rückschlägen gemeinsam Kraft zu ziehen, ist dahin.
So bleibt das Gefühl, dass sich Darmstadt ganz von allein um ein weiteres Märchen betrogen hat. Wollen wir hoffen, um von vorn zu beginnen. Um ein weiteres Märchen zu schreiben. Elendiges Drama findet sich an der Tabellenspitze der Liga schließlich schon genug.