Heute ist Super Bowl. Aka: Selbst in Deutschland schauen die Menschen American Football statt Fußball. So wie unser Autor, der dem Sport einst über Nacht verfiel – und seitdem sehr einsam ist.
Der Text erschien erstmals 2016.
Neulich ging es mir sehr schlecht. Es war Sonntagnacht, ein Uhr, ich konnte nicht schlafen. Was wenig schlimm gewesen wäre, wenn ich nicht in weniger als sieben Stunden zur Arbeit hätte gehen müssen. Hinter mir lag ein Wochenende der Enttäuschungen, das ich zu großen Teilen in Einkaufszentren, Supermärkten und Drogerieketten verbracht hatte. Im Neonlicht, der kalten Welt des Konsums ausgesetzt. Zudem hatte mal wieder keiner meiner Freunde über einen meiner schlechten Gags gelacht. Nicht mal aus Mitleid. Und meine Frau schaute mich beim Frühstück nur noch mitleidig an, als ich zum 27. Mal die gleiche „lustige“ Geschichte über einen Nutella-Vorfall aus meiner Jugend erzählte. Mein Selbstbewusstsein lag am Boden. Nackt. In Fötushaltung.
„Jeff, ich heiße Jeff“
Und dann war auch noch Winterpause. Kein Fußball. Ich war demoralisiert. Und so zappte ich durch das Nachtprogramm, um endlich irgendwie müde zu werden. Das Dritte wiederholte den Brüllkreisel Ina Müller, das ZDF zeigte zur Abwechslung mal irgendwas mit Hitler und Sport1 natürlich schlüpfrige Erotikwerbung mit opulenten Oberweiten („Jeff, ich heiße Jeff“).
Und als ich mich mit den „Größten Sprengungen der Weltgeschichte“ geistig endgültig in Richtung Lobotomie verabschieden wollte, entdeckte ich auf Programmplatz 176 Frank „Buschi“ Buschmann. War das schon ein Albtraum? Oder noch das wahre Leben? Der Kommentator dampfplauderte gewohnt vor sich hin, gab ab an einen langhaarigen Zottelbär, der irgendwelche halblaunigen Tweets vorlas. Wenige Sekunden später wurde auf das Livebild ins ferne Amerika geschaltet, und so begann der Untergang meiner ruhigen Nächte: Seattle Seahawks gegen die Arizona Cardinals. American Football, ein Spiel, in etwa so verständlich wie „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace – auf Finnisch.
Fremdwörter aus einer anderen Welt
Da wurde von „Neutral Zone Defraction“, „Intentional Grounding“ und „Blind Side Hit“ geredet. Es gab Spieler mit den klangvollen Namen Frostee Rucker oder Russel Okung. Die „Legion of Boom“ boomte und „Fitz“ kam nicht aus den Puschen. Ich verstand kein Wort. Es war verstörend. Es war großartig.
Ich ließ das Gemetzel der sich umrammenden Kühlschrankkörpern, regelmäßigen Werbepausen und des irren Statistikwirrwarr einige Minuten auf mich wirken und merkte, wie mich langsam ein Virus befiel: Plötzlich wollte ich das Spiel verstehen. Wann hatte ich das zuletzt dieses Gefühl der Neugier verspürt? Wahrscheinlich als ich als Kind das WM-Buch 1974 meines Vaters entdeckte.
Ein Mythenschatz, der gehoben werden musste
Ich googelte die Spielregeln, ackerte mich durch die Eckdaten der Spielhistorie und schaute bei YouTube die legendärsten Szenen an. Peyton Mannings Audibles, The Catch, Music City Miracle, Marshawn Lynchs Super-Interviews: Nach und nach schaffte ich mir das Rüstzeug dieser Sportart drauf, die einen Schatz aus Mythen und Legenden mit sich herumträgt, der sich nicht vor dem des Fußballs europäischer Prägung verstecken muss. Und obwohl ich noch nie in meinem Leben einen Football geworfen hatte, war ich über beide Ohren in dieses Spiel verliebt. Als ich auf die Uhr blickte, war es sechs Uhr dreißig.
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