Am 08.03.2020 spielte Mainz 05 zu Hause gegen Fortuna Düsseldorf – vor 21.409 Zuschauern. Seitdem ist alles anders, in der Welt, in Deutschland und im Fußball. Über ein Jahr, das unser Lieblingsspiel bis zur Unkenntlichkeit entstellt hat.
Ob Kenan Karaman weiß, dass er einer für die Geschichtsbücher ist? Immerhin ist er der letzte Fußballer, der in einem vollen Bundesliga-Stadion ein Tor geschossen hat. So richtig mit allem drum und dran, mit vor Freude brüllenden Fans im Gästeblock und vor Ernüchterung aufstöhnenden in den restlichen Ecken der Arena, mit Pfiffen und Pöbeleien, mit ziellos durch die Reihen fliegenden Bierbechern und zielgerichtet aufs Spielfeld fliegenden Verwünschungen, mit einem Stadionsprecher, der tatsächlich zu einem Publikum sprach und nicht gegen die Wand. Ein richtiges Tor, mit Sinn und Resonanz. Oder, anders: Kenan Karaman hat nicht das letzte richtige Tor geschossen, er schoss das letzte Tor, dass sich richtig anfühlte. Bevor die Pandemie kam und alles falsch werden ließ. Bevor ein Virus die Welt und Deutschland und die Liga erst in Panik und dann in den Ausnahmezustand versetzte, bevor es den Fußball Spiel für Spiel entkernte und nur noch eine Hülle übrig ließ, die seitdem zwar durch die Gegend geistert, der man aber in jedem Moment ansieht, dass sie eben nur noch genau das ist: eine Hülle, eine Fassade, eine Täuschung, ohne Inhalt, ohne Kern, ohne Seele.
Schaut man sich heute auf YouTube oder beim kicker die Spielberichte zur Partie zwischen Mainz und Düsseldorf an, genau ein Jahr, nachdem sie stattgefunden hat, dann wirkt alles daran sonderbar. Und nicht so, als wären seitdem nur 365 Tage vergangen. Das mag an Achim Beierlorzer liegen, bei dem wir schon wieder vergessen hatten, dass er mal für Mainz gearbeitet hat. Aber es liegt auch an der nüchternen Routine, mit der dieses Spiel abgefertigt wird, als sei es nur ein weiteres von zehntausenden. Torjäger Rouwen Hennings sitzt überraschend auf der Bank, Düsseldorf hat unerwartet viel Ballbesitz und Torchancen, Kenan Karaman ist der beste Spieler auf dem Platz, nicht nur wegen seines Ausgleichstreffers in der 85. Minute, sondern auch, weil er „sehr umtriebig“ ist und „immer wieder auf die Flügel“ ausweicht. Im Video sieht man Schnittbilder von maulenden Rentnern und klatschenden Kindern. Wann kann das gewesen sein? 2001? Man sieht es und denkt: Wenn ihr wüsstet.
Schon am Tag danach kippte die Stimmung. Das Zweitligaspiel in Stuttgart, das vor 54.000 Zuschauern stattfand, wurde bereits deutlich kritischer beäugt als der abgelaufene Erstligaspieltag, spätestens das Champions-League-Spiel zwischen Leipzig und Tottenham, zu dem am Dienstag, dem 10.03.2020 nochmal 42.146 Zuschauer in ein Fußballstadion gelassen wurden, entwickelte sich zum Streitthema. In der Politik, aber auch in alltäglichen Gesprächen.
Seitdem begleiten uns – nicht nur im Fußball – die immer gleichen und immer dringlicher gestellten Fragen durch ein irgendwie liegengebliebenes Leben: Ist das gefährlich? Ist das zu verantworten? Mit Maske oder ohne? Und vor allem: Wie lange noch? Das Nachholspiel zwischen Gladbach und Köln am Tag nach der Partie in Leipzig wurde zum ersten Geisterspiel der Bundesligageschichte. Zu dem Zeitpunkt gab es in Deutschland 1 296 bestätigte Coronafälle. Zwei Menschen waren an Covid-19 gestorben. Jetzt sind es 2 482 522 Fälle und 71 504 Tote. Mehr Menschen, als in Aschaffenburg leben, sind verschwunden.
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