21 Jahre lang konnte unser Autor und BVB-Fan Uli Hesse seinem Klub eine 2:5‑Derby-Niederlage nicht verzeihen. Doch dann setzte Christoph Metzelder zum Sprint seines Lebens an und sorgte bei ihm fortan für einen warmen Hals.
Diese Vorstellung war so grauenhaft, dass ich – wie eine ganze Menge anderer Fans – lange mit dem Gedanken spielte, überhaupt nicht ins Stadion zu gehen. Hinten Markus Brzenska gegen Kevin Kuranyi? Vorne Chancentod Ebi Smolarek gegen Manuel Neuer? Und im Mittelfeld Mesut Özil und Lincoln bei denen, Florian Kringe und Steven Pienaar bei uns? Das konnte nicht gutgehen; das wollte ich nicht sehen.
Aber dann wurde ich eingeladen, das Derby von der Osttribüne aus zu sehen. Normalerweise wäre ich nie auf die Idee gekommen, die Südtribüne gegen einen Sitzplatz einzutauschen, schon gar nicht bei solch einem Spiel, aber hier galt es, ein wichtiges Detail zu beachten: Sitzplätze brachten mir Glück. Borussia hatte noch nie ein Spiel verloren, das ich von einem normalen Sitzplatz aus gesehen hatte. (Das UEFA-Cup-Finale in Rotterdam fiel aus der Wertung, weil ich da auf der Pressetribüne gewesen war.)
„Endlich wieder im Derby-Modus!“
In der Woche vor dem Derby erfuhr ich, dass wir in einer wirklich interessanten Besetzung auf der Osttribüne sitzen würden: ein Dortmunder Freund, sein vermutlich neutraler Geschäftspartner, dessen chinesische Frau und ein Kollege, den ich hier mal „Bernd“ nennen möchte. Bernd war ein netter Kerl – aber leider durch und durch königsblau.
Schon auf dem Weg zum Stadion merkte ich, dass etwas anders war als sonst. In der Bahn, auf dem Fußweg und in der Kneipe am Stadion waren die Leute weniger laut, weniger ausgelassen. Die Stimmung war nicht schlecht – ganz im Gegenteil. Aber es herrschte jene angespannte Nervosität, die bei bedeutenden Spielen manchmal dafür sorgt, dass es in einem Stadion plötzlich geradezu still wird. Eine solche Atmosphäre kannte ich nur von Entscheidendungsspielen, von großen Finals – oder von den Derbys aus meiner Jugend. „Das ist wie früher“, schoss es mir durch den Kopf. „Wir sind endlich wieder im Derby-Modus!“ Und wie sich bald herausstellen sollte, galt das nicht nur für die Fans.
Schon nach elf Sekunden spielte Christian Pander einen kopflosen Fehlpass, Smolarek raste den Flügel entlang, ließ den hüftsteif wirkenden Mladen Krstajic einfach stehen und flankte in die Mitte, wo vier Schalkern das Kunststück gelang, nicht nur den Ball durchzulassen, sondern auch noch Alex Frei aus den Augen zu verlieren. Zwar setzte der Schweizer den Ball aus neun Metern neben das Tor, aber schon nach der ersten Szene des Spiels schlug mein Herz schneller. Diesmal war es genau andersherum, diesmal waren die Schwarz-Gelben mit Herz und Hirn im Spiel, während die anderen überhaupt nicht wussten, wie ihnen geschah!
„Ich gehe nach Hause!“
Kurz vor der Pause fing Christoph Metzelder, in seinem letzten Spiel für Dortmund, an der Mittellinie einen Pass von Hamit Altintop ab, weil Kuranyi pennte und nicht zum Ball ging. In seinen sieben Jahren beim BVB war Metzelder noch nie so schnell gelaufen wie er es jetzt tat und er hatte auch noch nie eine so gute Flanke geschlagen wie jene, die Frei nun ins Netz drückte. Seit langer, langer Zeit hatte ich keinen solchen Torschrei mehr in diesem Stadion gehört, selbst die Chinesin neben mir riss es aus ihrem Sitz.
Im Grunde war das Spiel damit schon gelaufen, denn Schalke wirkte wie gelähmt. Von Minute zu Minute wurde die Stimmung gelöster und als Smolarek in der Schlussphase auf 2:0 erhöhte, herrschte auf drei der vier Tribünen Karnevalsstimmung. Bernd sah dieses Tor übrigens nicht mehr. So um die 70. Minute herum hatte er mir plötzlich zum Abschied die Hand gereicht.
„Was ist los?“, fragte ich verständnislos.
„Ich gehe nach Hause“, antwortete er.
„Aber es steht nur 1:0 und es sind noch zwanzig Minuten zu spielen!“
„Wenn die nicht Meister werden wollen, ist mir das egal“, sagte er mit grimmiger Verachtung. „Aber dann sollen sie es uns wenigstens vorher sagen.“ Und damit stapfte er verärgert davon. Ich muss ihn mal fragen, ob er morgen einen Schal trägt, wenn er ins Stadion geht.