Erneut hat Bayer Leverkusen im entscheidenden Moment versagt. Was ist nur los mit diesem Verein?
Ob Karim Bellarabi weiß, was damals am 20. April 2002 in Bremen passierte? Ob irgendwer Javier Hernandez mal davon erzählt hat, wie sein heutiger Arbeitgeber vor mehr als 13 Jahren nur gegen ein mittelmäßiges Werder hätte gewinnen müssen, um schon nach dem 32. Spieltag Meister zu werden? Saß Stefan Kießling vor dem Fernseher und wunderte sich, warum Bayer in der zweiten Halbzeit alles nach vorne warf, ausgekontert wurde, schließlich mit 1:2 verlor und damit letztlich den sicher geglaubten Titelgewinn verspielte? Kennt Lars Bender das ganze Ausmaß der Katastrophe von 2002, als Leverkusen nicht nur die Meisterschaft, sondern auch den Sieg in der Champions League und im DFB-Pokal vergeigte?
Hängt 2002 noch immer nach?
Wenn Fußballer wirklich nur von Spiel zu Spiel denken, dann sind 13 Jahre eine Ewigkeit. Wenn Profis wirklich in der Lage sind, Niederlagen einfach abzuhaken und nach vorne zu schauen, dann müsste die Vizekusen-Saison längst vergessen sein. Und doch hat man das Gefühl, dass 2002 noch überall in Leverkusen präsent ist. Dass das Gefühl, zwar guten Fußball spielen zu können, aber wenn es hart auf hart kommt, zu scheitern, in den Katakomben der BayArena hängt wie der Geruch von Mottenkugeln in Omas Kleiderschrank.
Gestern wieder. Da hätte den Leverkusenern ein Tor gereicht, um ins Achtelfinale der Champions League einzuziehen. Bayer spielte besseren Fußball als der Gast aus Barcelona, der nur mit einer B‑Elf angetreten war. Bayer hatte viel mehr Chancen. Aber Bayer spielte nur 1:1 und flog raus. Das war mal wieder so Leverkusen.
Diesem Klub traut man die großen Siege nicht mehr zu
Was ist das nur, das Bayer daran hindert, auch mal solche Spiele zu gewinnen? Für die große Überraschung zu sorgen? Oder zumindest den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden? Viel schlimmer als verpasste Chancen wie die gegen Barcelona ist die allgemeine Auffassung im deutschen Fußball, dass es Leverkusen am Ende eh wieder nicht schafft. Diesem Verein traut man die ganz großen Würfe einfach nicht mehr zu. Warum ist das so?
Ist es tatsächlich so etwas wie ein Verlierer-Gen, das seit 2002 in der DNA des Klubs steckt? Beeinflussen die historischen Niederlagen auf der Ziellinie das Denken, Wirken und Arbeiten der Verantwortlichen?
Ist es gar das Stadion, das selbst an guten Tagen nicht mehr Energie versprüht als ein mittelmäßig gefülltes Westfalenstadion an einem grauen 0:0‑Nachmittag im Spätherbst? Das Image des Klubs, das immer noch den Eindruck vermittelt, dass Verlieren zwar blöd ist, aber halt mal passieren kann?
Nein, das war überhaupt nicht gut!
Kommen Fußballer eigentlich nach Leverkusen, um Titel zu gewinnen oder lediglich, um sich weiterzuentwickeln, um dann in München, London oder Madrid die ganz großen Siege zu feiern?
So viele Fragen, so gut wie keine Antworten. Es sind nicht greifbare Faktoren, die Leverkusen zu Leverkusen machen. Man kann sie nicht trainieren, nicht mit Geld wegkaufen. Sie stecken irgendwie in diesem Verein, der inzwischen wirkt, als habe er sich längst dem ihm vorbestimmten Schicksal ergeben. In München speien Karl-Heinz Rummenigge, Matthias Sammer oder früher Uli Hoeneß Gift und Galle, wenn die Mannschaft auch nur den Anschein erweckt, den nötigen Killerinstinkt vermissen zu lassen. In Leverkusen sagt Sportdirektor Rudi Völler nach dem 1:1 gegen Barcelona erst „Es ist eine große Enttäuschung“. Und im Satz danach: „Wir haben das vom ersten Moment an sehr gut gemacht.“ Man möchte in diesen Momenten aufstehen und schreien: „Nein, das habt ihr überhaupt nicht! Ihr seid verdammt noch mal ausgeschieden!“ Wenn sich nicht längst eine Lethargie oder gar Egal-Haltung gegenüber dem Verein eingestellt hätte.
„Es wird mein ganzes Leben in meinem Gedächtnis bleiben“ – so Leverkusen
Trainer Roger Schmidt, der Verantwortliche dieser nächsten verpassten Großchance in der Vereinsvita von Bayer Leverkusen, wurde nach dem Spiel von „Sky“-Nachfrager Jan Henkel mit eben dieser „Typisch Leverkusen“-Situation konfrontiert. Auch Henkel wollte Antworten auf die vielen Fragen. Aber Schmidt wusste doch auch nicht, was das wirkliche Problem seines Arbeitgebers ist. Also gab er erst ein paar branchenübliche Phrasen von sich („Manchmal hält der Torwart gut, manchmal fehlt ein bisschen Glück, vielleicht auch Reife und Coolness. Wir sind auch eine sehr junge Mannschaft“), dann wurde er wütend, weil es Henkel gewagt hatte, diese Erklärung nicht kommentarlos abzunicken. Schmidt pampte und verabschiedete sich mit einem sehr interessanten Satz: „Es wird mein ganzes Leben in meinem Gedächtnis bleiben, dass wir es heute nicht geschafft haben.“
Das war übrigens sarkastisch gemeint.