Im Corona-Pokalfinale spielen die Bayern wie auf Superhelden-Serum. Der 4:2‑Sieg über Bayer Leverkusen beweist eindrucksvoll, dass die Münchner der nationalen Konkurrenz am Ende dieser wechselhaften Saison enteilt sind – und sich Hoffnungen auf das Triple machen dürfen.
Was auch immer Hansi Flick seinen Spielern seit Dezember ins Essen mischt, jede® sollte etwas davon bekommen! Von dieser Selbstgewissheit und Überzeugung, diesem Glauben an die eigene Stärke und das Erreichen der gesteckten Ziele. Seit Beginn der Adventszeit hat der FC Bayern keine Partie mehr verloren. Und langsam drängt sich der Eindruck auf, dass der Rekordmeister der geheimen Formel zur Unschlagbarkeit mit jedem Sieg näher kommt. Auch der jederzeit ungefährdete Triumph im Pokalfinale über Leverkusen war ein eindrucksvolles Indiz für eine neue Dimension von Selbstbewusstsein, die die Münchner unter ihrem lange Zeit als Interimstrainer gebrandmarkten Übungsleiter erreicht haben.
Da mochte sich die stolze Bayer-Elf 27 Jahre nach dem letzten Titel noch so sehr ein Wunder wünschen, war es doch für jeden erkennbar, dass der FCB in diesem Finalen auf allen Positionen besser besetzt war. Und schon zur Halbzeit niemand mehr zweifelte, dass die Partie entschieden sei. Selbst der sonst wenig meinungsfreudige Bundestrainer verstieg sich zur Prophezeiung, dass die Bayern 3:0 gewinnen. Dass Manuel Neuer am Ende doch noch zwei Gegentreffer hinnahm, hatte weniger damit zu tun, dass Leverkusen so aufdrehte, als mit der Tatsache, dass die Münchner zwischenzeitlich in den Verwaltungsmodus umgeschaltet hatten. Was man halt so macht, wenn man weiß, dass die Messe gelesen ist.
Zur Erinnerung: In der Hinrunde schien es seit Jahren wieder möglich, dass die Münchner im Titelrennen den Anschluss verlieren. Unter Coach Niko Kovac war vieles aus der Ordnung geraten. Die Mannschaft spielte unkonstant und wenig überzeugend. Dem Team fehlte es an Struktur. Uli Hoeneß legte Jérome Boateng nahe, sich einen neuen Verein zu suchen. Thomas Müller hatte sein Mojo verloren und dachte öffentlich darüber nach, woanders sein Glück zu versuchen. Die sündhaft teuren Neuverpflichtungen Lucas Hernandez und Coutinho kämpften wahlweise mit Verletzungen, Formschwächen oder beidem zusammen. Der Trainer bestimmte Thiago zum Spieler seines Vertrauens, um die Grundordnung wieder herzustellen.
Doch kaum war Niko Kovac bei den Bayern Geschichte, brachte dessen behutsamer Assistenztrainer den aufgescheuchten Bayern-Hühnerhaufen wieder zur Ruhe. Hansi Flick sprach die altbewährten Kräfte wieder stark. Er polierte seine Veteranen wie ein Archivar verstaubte Pokale wieder auf Hochglanz, sprach Müller und Boateng das Vertrauen aus. Redete nicht nur darüber, dass seine Tür für die Spieler immer offenstehe, sondern lüftete auch sonst mächtig durch. David Alaba modelte er zu einem der besten Innenverteidiger der Welt um. Leon Goretzka machte unter ihm einen Leistungssprung, den der am Ende wohl nicht einmal von sich selbst erwartet hätte. Wie sein epischer Vorgänger Jupp Heynckes gab Flick dem glitzernden Starensemble mit Menschlichkeit die Überzeugung an die eigenen Fähigkeiten zurück und moderierte den FCB in einfühlsamer Fußballlehrer-Manier wieder zum Maß aller Dinge in der Liga.
Auch wenn es die achte Meisterschaft in Folge und der sechste Pokalsieg in der zurückliegenden Dekade war, erzählt das Double 2020 eine andere Geschichte als frühere Pflicht-Titel dieser Art. Nicht nur, weil der Pokalsieg der fünfzigste nationale Titel in der Geschichte des FC Bayern München war, sondern vor allem weil sich nun zeigt, welche Möglichkeiten in dieser Mannschaft schlummern, wenn ein Coach das richtige Händchen besitzt. Hansi Flick ist es gelungen, mit einem Stamm von Spielern der nationalen Konkurrenz zu enteilen, die seit Jahren das Fundament dieses Klubs bilden. Nicht Hernandez oder Coutinho waren die entscheidenden Spieler in der Rückrunde, auch nicht rekonvaleszente Führungsspieler Thiago, sondern Alaba, Müller, Kimmich, Boateng und – einmal mehr – Lewandowski.
Die Darbietung im Berliner Olympiastadion war eine Demonstration der Macht. Der endgültige Beweis, dass selbst in Spielen, die eigene Gesetze besitzen, kein Team in Deutschland an die Bayern heranreicht. Deren Überlegenheit über Bayer 04 war so drückend, dass es selbst unzweifelhaften Fachkräften wie Kevin Volland (schoss freistehend vor Neuer ein Luftloch) und Lukáš Hrádecký (bekam einen Verlegenheitsball von Lewandowski durch die Hosenträger) kurzzeitig die Luft abschnürte. Die Bayern spielten ihren Stiefel runter und hakten die vom Gegner so sehnsüchtig begehrte Trophäe einfach locker ab.
Nun muss sich zeigen, ob der Klub in der Lage ist, die euphorische Stimmung und das an die Grenze zur Perfektion verdichtete Kombinationsspiel bis zum 8. August zu konservieren. Dann wartet im Achtelfinal-Rückspiel in der Champions League der FC Chelsea, der nach dem 3:0‑Hinspielsieg für diese Bayern eigentlich nur ein behördlicher Vorgang sein sollte. Wenn es so kommt, könnte das erfahrene Greenhorn Flick an seiner ersten Bundesliga-Cheftrainerstation seine Mannen beim Finalturnier der Königsklasse in Lissabon gar zum Triple-Revival coachen.
Denn in dieser Form wird es für die internationale Konkurrenz schwer, sich aus diesem fußballerischen Würgegriff der FCB-Eleven zu befreien. Selbst wenn in den corona-bedingten K.O.-Spielen Spielglück und Tagesform schwer berechenbare Größen sind, haben die Bayern bei der Generalprobe in Berlin bewiesen, dass sie auch für One-Leg-Matches gewappnet sind. Im Pokalfinale minimierten die Münchner den Faktor Zufall in einen Bereich, der nicht mehr wahrnehmbar war. Zwei von drei Haken auf der Liste – gemacht.