Vor dem Spitzenspiel gegen Bordeaux schwebt Olympique Marseille mal wieder auf Wolke Sieben. Ganz Marseille lechzt nach den großen Erfolgen vergangener Tage, als Fußball und Hip Hop die Stadt zu einer der aufregendsten in Europa machten.
Schon merkwürdig. Ist es ein Zufall, dass die Karriere von DJ Djel genau dann Fahrt aufnahm, als Olympique de Marseille anfing, die vielen Millionen des legendären südfranzösischen Sonnenkönigs Bernard Tapie in Titel und Trophäen zu veredeln? 1989 war das. In Deutschland stand noch eine Mauer und in Marseille entwickelte sich Hip-Hop zum zweitheißesten Scheiß der Stadt. Knapp hinter der blau-weißen Königin von der Côte d’Azur, die von 1989 an vier nationale Meisterschaften nacheinander feiern sollte und sich 1993 im Europapokalfinale selbst die Krone aufsetzte.
DJ Djel, 1974 als Djellali El-Ouzeri nordafrikanischer Einwanderer in Marseille zur Welt gekommen, trieb sich als B‑Boy in den Vierteln dieser aufregenden Hafenstadt herum, die südfranzösisches Laissez faire mit dem speziellen Charme von Kriminalität verbindet. Bald wechselte er vom Mic zu den Turntables und das war, als hätte einer Rudi Völler davon überzeugt, es mal ganz vorne im Sturm zu versuchen, statt im defensiven Mittelfeld. Mitte/Ende der Neunziger entwickelte sich Marseille zur französischen Vorzeige-Hip-Hop-City und wer was auf sich hielt, bediente sich an den Sets von DJ Djel.
Wie die Wachsflügel der Kaiserin schmolzen
1998, im französischen WM-Jahr erschien das Debütalbum der von ihm mitgegründeten „Fonky Family“ und erreichte Platinstatus. 400.000 verkaufte Alben. Seitdem ist DJ Djel in Marseille eine Legende. Doch während seine Karriere durchstartete schmolzen die Wachsflügel der zu ungeahnten Höhen vorgeeilten Kaiserin und OM stürzte ab: Zwangsabstieg, jahrelange Korruptionsvorwürfe, merkwürdige Entscheider und merkwürdige Entscheidungen.
Vielleicht hat DJ Djel deshalb so viele Sorgenfalten im Gesicht. Ein Treffen im Oktober 2018. Durch die Stadt hat den ganzen Tag ein kalter Wind geweht, die Straßen sind nass und spiegeln den Glitzer der Feierabendstunden. Draußen vor der Bar steht ein Raucherzelt, also rein da, denn so eine Reibeisenstimme wie die von Djel kommt nicht von ungefähr.
„Hip-Hop und Fußball haben dieselben Wurzeln“
Der Mann, der Frankreichs Jugend den Takt vorgegeben hat, ist selbstverständlich Fan von Olympique. Selbstverständlich, weil man in dieser Stadt lange suchen muss, um jemanden zu finden, der sich offen dazu bekennt, keine Zuneigung für OM zu hegen. Und unter den ansässigen Hip-Hop-Musikern wird die Suche vermutlich sogar völlig ergebnislos verlaufen. Warum ist das so?
„Weil Hip-Hop und Fußball dieselben Wurzeln haben. Nämlich die Straße. Beide definieren sich über ihre Herkunft, ihre Stadt. Deshalb ist OM Marseille und Marseille OM“, sagt DJ Djel und zieht gemütlich an seiner Kippe, als habe er da nicht eben eine ganz wundervolle Weisheit verkündet.
Je mehr sich eine Stadt über ihren Verein identifiziert, desto spezieller die daraus erwachsenen Fanszenen. OM ist heute außerhalb von Marseille nicht unbedingt dafür berühmt, den besten Fußball zu spielen. Aber was in den Kurven passiert, ist Jahr für Jahr Champions-League-Halbfinale. Mindestens. Das hat auch damit zu tun, dass Marseille die erste Fußballstadt außerhalb Italiens war, in der die Ultra-Kultur Fuß fasste. Noch nicht so groß und mit viel weniger Grundwehrdienst-Gehorsam, dafür wilder, freier und verrückter.
Zu Marseille passte der neue Style auf den Rängen wie zu Neapel oder Athen, dieser Ort war schon immer ein Platz der 1000 Kulturen, weil Europa hier auf Afrika trifft. Ein wahres Migranten-Mekka und damit nie versiegender Quell guter Fußballer. Die beiden bekanntesten heißen Eric Cantona, Großvater aus Sardinien, und Zinédine Zidane, die Eltern algerische Berber. Wer solche Fußballer produziert, muss sich nicht wundern, wenn sich die ganze Stadt in den Fußball verknallt.
Eine gigantische, durchgeknallte Party
Ultras bedeutet in Marseille nicht einen abgesteckten Bereich im Stadion, Ultras sind hier überall. Vier große Gruppen teilen sich das beeindruckende Stade Vélodrome auf und wenn die großen Gegner anreisen – Paris, Lyon oder wie am Sonntag Bordeaux – dann brennt hier die Hütte. Was an guten Tagen dazu führt, dass im 8. Arrondissement von Marseille eine gigantische und durchgeknallte Party gefeiert wird, und an schlechten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und ziemlich hohen Strafen für den Klub. Als neulich OM-Anhänger den Bus von Lyon mit Steinen bewarfen, stand das Spiel kurz davor, nicht angepfiffen zu werden. Der bekannte Ritt auf der Rasierklinge.
Auch DJ Djel hat schon eine Menge Herzblut für diesen Verein vergossen. Als Ultra im klassischen Sinne bezeichnet er sich nicht mehr, früher mal, klar, aber Jugendkulturen sollen schließlich auch Jugendkulturen bleiben. Als alter Sack verfolgt er die Passion seiner Mitbürger voller Sympathie. Weil man in dieser Stadt nicht an OM vorbeikommt, kommt man deshalb auch nicht an den Ultras vorbei.
„Rassisten, Sexisten oder andere Arschlöcher bekommen bei uns auf die Schnauze“
Der Hip-Hip-Pionier aus der Hafenstadt mit dem großen Fußball-Herz misst dem Klub auch deshalb so große Bedeutung zu, weil OM eine wichtige soziale Funktion in diesem 900.000-Seelen-Kuddelmuddel erfüllt. Wie an jedem anderen Ort der Welt, wo so viele verschiedene Kulturen aufeinanderprallen, gibt es auch hier große gesellschaftliche Spannungen und Konfliktpotentiale. In einigen Gemeinden der Stadt gehört der Front National bereits zu den stärksten Parteien. Inmitten dieser herankleckernden brauen Soße genießt die aktive Fanszene von OM den Ruf, das St. Pauli Frankreichs zu sein. Oder um es mit den Worten von DJ Djel zu sagen: „Rassisten, Sexisten oder andere Arschlöcher bekommen bei uns auf die Schnauze.“
Im Selbstverständnis dieses Anhangs ist Olympique die wichtigste Fußballmannschaft des Landes. Für die Strahlenwerte seiner Fanszene mag das noch gelten, sportlich wurde OM längst vom deutlich reicheren PSG überholt. Und zwar mit Lichthupe. Der Abstand zwischen den beiden Klubs ist riesig. Was für alle, die es mit OM halten, umso mehr eine Schande ist, da die Kurve von PSG seit Jahrzehnten Anlaufpunkt für rechte Hools ist.
Zum Zeitpunkt des Treffens mit DJ Djel im Herbst 2018 spielte OM mal wieder eine sehr merkwürdige Saison. Noch vor wenigen Monaten hatte man im Finale der Europa League gestanden, doch die 0:3‑Peitsche gegen Atletico Madrid hatte dem Klub offenbar das Selbstvertrauen rausgehauen. Einen Tag später wurde das Spitzenspiel gegen Paris St. Germain klar mit 0:2 verloren. Graues Tabellenmittelfeld. Noch eine Sorgenfalte mehr für DJ Djel. Die Saison beendete OM übrigens aus Platz fünf, Europapokal knapp verpasst, sage und schreibe 30 Punkte weniger als PSG.
Gut, ein Jahr später sind es nur fünf Punkte, die Marseille und Paris voneinander trennen. Ok, ein Spiel weniger und das Hinspiel hat man klar mit 0:4 gegen PSG verloren, aber in diesem begeisterungsfähigen Verein spielt man vom Gefühl her jetzt endlich mal wieder um den Titel. Hauptverantwortlich für dieses erfolgreiche erste Saisondrittel ist der neue Trainer André Villas-Boas, der einst bei seinem Trainerdebüt vier Titel mit dem FC Porto gewann, als jüngster Trainer eines Europapokalgewinners in die Geschichte einging und danach nie wieder an diese gigantischen Erfolge anknüpfen konnte. Sein vorerst letzter Arbeitgeber war der chinesische Plastikklub Shanghai International Port Football Club, von 2017 bis 2019 war er arbeitslos.
Kluge Transfers
Ein schlauer Transfer von OM, auch in finanzieller Hinsicht: Zu Höchstzeiten kassierte der Trainer-Wunderjunge zwölf Millionen Euro pro Jahr, in Marseille begnügt er sich mit 600.000 Euro Jahresgehalt und im internationalen Vergleich sehr schmalen Transfermöglichkeiten. Die 27 Millionen Euro, die der Verein dann doch in die Hand nahm, wurden allerdings schlau investiert: Mittelfeldmann Valentin Rongier ist ein wichtiger Baustein in der Zentrale, Angreifer Dario Benedetto ist mit sechs Treffern Toptorjäger. Und dann ist ja doch Dimitri Payet, ein Spieler mit unglaublichen Möglichkeiten, früher mal Skandalnudel, jetzt Kapitän.
Seine Mannschaft lässt Villas-Boas einen recht unspektakulären, aber effizienten Sicherheitsfußball spielen und hat damit in 16 Ligaspielen neunmal gewonnen und nur dreimal verloren. Die Partie am Sonntag-Abend (Anstoß 21 Uhr) gegen Girondins ist auch deshalb ein Spitzenspiel, weil Bordeaux derzeit Dritter ist, ebenfalls fünf Punkte entfernt. Dazu kommt, dass sich auch der Gegner als eine französische Fußballhochburg definiert. Stichwort: Prestigeduell.
DJ Djel wird auch wieder dabei sein. Noch ein Dosenbier trinken, hinten, auf dem Parkplatz von der Tankstelle neben McDonalds, vorbei an der Bude mit den Fanschals und rein in den Irrsinn zwischen Virage Nord und Virage Sud. Dann wird in Marseille vielleicht mal ein Fußball-Fest gefeiert. Man weiß hier ja, wie das geht.