96 Fußballfans sterben am 15. April 1989 im Stadion von Sheffield. Erst 27 Jahre später erfahren die Toten von Hillsborough Gerechtigkeit. Ein Überlebender erzählt.
Nun gerät die Menge durch den Druck von hinten wieder in Bewegung: 50 oder 60 von uns werden in einer komprimierten Masse aus Gliedmaßen gegeneinandergepresst. Wir werden langsam herumgeschleudert, wie Kleidungsstücke in einer überfüllten Waschmaschine. Hin und her, und rauf und runter. Die ersten Menschen sterben, wie fast alle anderen nach ihnen sterben werden, an Asphyxie. Ihr Brustkorb wird zusammengedrückt, und alles Blut schießt in Hals und Kopf. Jene, die inzwischen gestorben sind, werden mit uns allen herumgeworfen wie Schaufensterpuppen. Ihre Augen bewegen sich nicht, aber einem von ihnen rinnen noch die Tränen die Wangen hinab.
Ich bin am Ende meiner Kräfte und schreie, aber niemand kommt, um zu helfen. Mir bleiben vielleicht noch 50 Sekunden zu leben – genau 50 Sekunden, so sagt mir mein Verstand. 50 Sekunden zu leben … ich muss mich von meiner Familie verabschieden, von meinen Kumpels, meiner Freundin. Schnell! Und dann werde ich schreien, bis ich sterbe, nur für den Fall – nur für den Fall, dass uns die Polizei endlich erhört. Aber jetzt bin ich müde und kann mich vom Hals abwärts nicht mehr bewegen. Ich könnte jetzt einfach einschlafen. Ich werde schlafen, denn ich bin 19 Jahre alt und ich weiß, dass ich gleich sterbe.
„Er ist mein Bruder“
Als mein Gehirn meinen Körper mit Endorphinen zu überschwemmen beginnt, werde ich, wie in einer Blase aus warmem Wasser, über die Menge gehoben. Es ist seltsam friedlich. Dann ein lautes Rufen, ein krächzendes, aggressives Rufen eines Polizisten in einem Yorkshire-Dialekt: „Geht zurück, ihr blöden Arschlöcher!“ Sie glauben, wir wollen den Platz stürmen. Sekunden, vielleicht Minuten später, mache ich wieder die Augen auf. Der Himmel ist immer noch blau und die Polizei hat endlich das Tor im Zaun geöffnet. Zum ersten Mal seit einer Stunde stehe ich wieder aufrecht, ohne dass sich jemand an mich drängt. Ich bin unversehrt. Während ich mich noch nach gebrochenen Rippen oder Knochen abtaste, kippen vor mir ein paar Leute um und schlagen auf dem Beton auf. Auf dem Boden stapelt sich ein Haufen verschlungener Körper, einen Meter hoch. Nach einigen Sekunden sehe ich, wie sich etwas bewegt, und mir wird klar, dass da drin noch jemand am Leben ist. Ein Polizist, der durch das Tor gekommen ist, erklärt später, es sei eine Szenerie gewesen „wie in Bergen-Belsen“.
In der nächsten halben Stunde, während die Polizei sich schon beeilt, gegenüber der BBC, dem englischen Fußballverband und dem FC Liverpool klarzustellen, dass die Liverpooler Fans die Katastrophe herbeigeführt hätten, indem sie die Eingangstore stürmten, nehmen ich und hunderte andere Überlebende die Werbebanden auseinander, um sie als Tragen zu benutzen. Ein paar von uns heben einen toten Mann auf, der teilweise entkleidet neben der Torauslinie liegt. Wir legen ihn auf eine Bande und laufen in Richtung Tribüne, wo die Forest-Fans stehen. Als wir dort keine Sanitäter finden, verlassen wir das Stadion über eine Rampe und werden von der Polizei zu einer Turnhalle geleitet, die als provisorische Leichenhalle dient. Hinter einem Badmintonnetz liegen, abgedeckt mit Tüchern, reihenweise Leichen aufgebahrt, jeweils einen Polizeihelm auf der Brust. Polizisten sitzen am Rande der Halle, auf Stühlen oder auf dem Boden, weinend, völlig aufgelöst. Einer schlägt seinen Kopf gegen die Wand. Am Boden kümmern sich Gruppen von je zwei oder drei Leuten um die Opfer: Manche klopfen ihnen verzweifelt auf die Brust, andere probieren es mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Ein Mann kniet und hält den Kopf eines Burschen in einer schwarzen Jacke, wiegt ihn sachte hin und her, während er weint. „Er ist mein Bruder“, sagt er, schluchzend. „Er ist mein Bruder.“ Aber er wacht nicht mehr auf.
Ich halte die Hand des toten Mannes, den wir aufgelesen haben. Sie ist kalt und schweißnass. Er ist bleischwer, aber es widerstrebt mir, ihn loszulassen. Jemand beugt sich über eines der Opfer auf dem Boden und beginnt, ihm die Letzte Ölung zu erteilen. Und in meinem Kopf sagt eine Stimme nur: „Du musst hier raus, sofort, sonst verlierst du den Verstand.“
Ich zittere am ganzen Körper
Mein Verstand ist an jenem Tag an der Leppings Lane nachhaltig erschüttert worden. Meine heutigen Erinnerungen sind Bruchstücke und Geräuschfetzen. Ich entsinne mich der Farben: das strahlende Blau des Himmels und des stählernen Gitterzauns, das blasse Grün des Rasens, das bräunliche Rosarot von Erbrochenem, das Umstehenden am Kinn hinabrinnt, das Dunkelblau der Polizisten, die vorübergehen. Unvermittelt klingen mir Geräusche in den Ohren – Menschen, die weinen, um Atem ringen, um ihr Leben schreien. Das Knacken eines nachgebenden Wellenbrechers – ein Schrei, als drei Reihen von Menschen zu Boden gehen. Das Geräusch brechender Knochen (war das real oder habe ich es mir eingebildet?). Und dann ist da noch der Gestank nach Exkrementen und Urin, als im Gewühl unsere Organe zermalmt werden, als Blasen und Gedärme nachgeben.
Um Mitternacht am 15. April 1989 sitze ich im Haus meines Bruders im Gästezimmer. Von Sheffield bin ich zu ihm nach Nottingham gefahren, so erfährt er erst um sieben Uhr abends, dass ich überlebt habe (es gibt noch keine Mobiltelefone). Nach sechs oder sieben Pints Bier und ein paar Schnäpsen bin ich stocknüchtern und zittere am ganzen Körper. Ich sitze auf dem Bettrand. Der Mond scheint durch die Vorhänge. Ich kann nicht schlafen, wegen des Mondlichts und des Gebrülls der Menschen, toter Menschen, die mich anflehen, sie zu retten. Aber ich kann sie nicht retten, weil ich mich nicht bewegen kann. Sie sind nur ein paar Meter entfernt, aber ich kann buchstäblich keinen Finger rühren, um ihnen zu helfen. „Hilf mir“, sagen sie. Aber alles, was ich und andere tun können, ist dabei zuzusehen, wie sie sterben. Das sind wir ihnen schuldig. Und wir werden Zeugnis für sie ablegen.