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Seite 2: Das Knacken brechender Knochen

Nun gerät die Menge durch den Druck von hinten wieder in Bewe­gung: 50 oder 60 von uns werden in einer kom­pri­mierten Masse aus Glied­maßen gegen­ein­an­der­ge­presst. Wir werden langsam her­um­ge­schleu­dert, wie Klei­dungs­stücke in einer über­füllten Wasch­ma­schine. Hin und her, und rauf und runter. Die ersten Men­schen sterben, wie fast alle anderen nach ihnen sterben werden, an Asphyxie. Ihr Brust­korb wird zusam­men­ge­drückt, und alles Blut schießt in Hals und Kopf. Jene, die inzwi­schen gestorben sind, werden mit uns allen her­um­ge­worfen wie Schau­fens­ter­puppen. Ihre Augen bewegen sich nicht, aber einem von ihnen rinnen noch die Tränen die Wangen hinab.

Ich bin am Ende meiner Kräfte und schreie, aber nie­mand kommt, um zu helfen. Mir bleiben viel­leicht noch 50 Sekunden zu leben – genau 50 Sekunden, so sagt mir mein Ver­stand. 50 Sekunden zu leben … ich muss mich von meiner Familie ver­ab­schieden, von meinen Kum­pels, meiner Freundin. Schnell! Und dann werde ich schreien, bis ich sterbe, nur für den Fall – nur für den Fall, dass uns die Polizei end­lich erhört. Aber jetzt bin ich müde und kann mich vom Hals abwärts nicht mehr bewegen. Ich könnte jetzt ein­fach ein­schlafen. Ich werde schlafen, denn ich bin 19 Jahre alt und ich weiß, dass ich gleich sterbe.

Er ist mein Bruder“

Als mein Gehirn meinen Körper mit Endor­phinen zu über­schwemmen beginnt, werde ich, wie in einer Blase aus warmem Wasser, über die Menge gehoben. Es ist seltsam fried­lich. Dann ein lautes Rufen, ein kräch­zendes, aggres­sives Rufen eines Poli­zisten in einem York­shire-Dia­lekt: Geht zurück, ihr blöden Arsch­lö­cher!“ Sie glauben, wir wollen den Platz stürmen. Sekunden, viel­leicht Minuten später, mache ich wieder die Augen auf. Der Himmel ist immer noch blau und die Polizei hat end­lich das Tor im Zaun geöffnet. Zum ersten Mal seit einer Stunde stehe ich wieder auf­recht, ohne dass sich jemand an mich drängt. Ich bin unver­sehrt. Wäh­rend ich mich noch nach gebro­chenen Rippen oder Kno­chen abtaste, kippen vor mir ein paar Leute um und schlagen auf dem Beton auf. Auf dem Boden sta­pelt sich ein Haufen ver­schlun­gener Körper, einen Meter hoch. Nach einigen Sekunden sehe ich, wie sich etwas bewegt, und mir wird klar, dass da drin noch jemand am Leben ist. Ein Poli­zist, der durch das Tor gekommen ist, erklärt später, es sei eine Sze­nerie gewesen wie in Bergen-Belsen“.

In der nächsten halben Stunde, wäh­rend die Polizei sich schon beeilt, gegen­über der BBC, dem eng­li­schen Fuß­ball­ver­band und dem FC Liver­pool klar­zu­stellen, dass die Liver­pooler Fans die Kata­strophe her­bei­ge­führt hätten, indem sie die Ein­gangs­tore stürmten, nehmen ich und hun­derte andere Über­le­bende die Wer­be­banden aus­ein­ander, um sie als Tragen zu benutzen. Ein paar von uns heben einen toten Mann auf, der teil­weise ent­kleidet neben der Tor­aus­linie liegt. Wir legen ihn auf eine Bande und laufen in Rich­tung Tri­büne, wo die Forest-Fans stehen. Als wir dort keine Sani­täter finden, ver­lassen wir das Sta­dion über eine Rampe und werden von der Polizei zu einer Turn­halle geleitet, die als pro­vi­so­ri­sche Lei­chen­halle dient. Hinter einem Bad­min­ton­netz liegen, abge­deckt mit Tüchern, rei­hen­weise Lei­chen auf­ge­bahrt, jeweils einen Poli­zei­helm auf der Brust. Poli­zisten sitzen am Rande der Halle, auf Stühlen oder auf dem Boden, wei­nend, völlig auf­ge­löst. Einer schlägt seinen Kopf gegen die Wand. Am Boden küm­mern sich Gruppen von je zwei oder drei Leuten um die Opfer: Manche klopfen ihnen ver­zwei­felt auf die Brust, andere pro­bieren es mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Ein Mann kniet und hält den Kopf eines Bur­schen in einer schwarzen Jacke, wiegt ihn sachte hin und her, wäh­rend er weint. Er ist mein Bruder“, sagt er, schluch­zend. Er ist mein Bruder.“ Aber er wacht nicht mehr auf.

Ich halte die Hand des toten Mannes, den wir auf­ge­lesen haben. Sie ist kalt und schweiß­nass. Er ist blei­schwer, aber es wider­strebt mir, ihn los­zu­lassen. Jemand beugt sich über eines der Opfer auf dem Boden und beginnt, ihm die Letzte Ölung zu erteilen. Und in meinem Kopf sagt eine Stimme nur: Du musst hier raus, sofort, sonst ver­lierst du den Ver­stand.“

Ich zit­tere am ganzen Körper

Mein Ver­stand ist an jenem Tag an der Lep­pings Lane nach­haltig erschüt­tert worden. Meine heu­tigen Erin­ne­rungen sind Bruch­stücke und Geräusch­fetzen. Ich ent­sinne mich der Farben: das strah­lende Blau des Him­mels und des stäh­lernen Git­ter­zauns, das blasse Grün des Rasens, das bräun­liche Rosarot von Erbro­chenem, das Umste­henden am Kinn hin­ab­rinnt, das Dun­kel­blau der Poli­zisten, die vor­über­gehen. Unver­mit­telt klingen mir Geräu­sche in den Ohren – Men­schen, die weinen, um Atem ringen, um ihr Leben schreien. Das Kna­cken eines nach­ge­benden Wel­len­bre­chers – ein Schrei, als drei Reihen von Men­schen zu Boden gehen. Das Geräusch bre­chender Kno­chen (war das real oder habe ich es mir ein­ge­bildet?). Und dann ist da noch der Gestank nach Exkre­menten und Urin, als im Gewühl unsere Organe zer­malmt werden, als Blasen und Gedärme nach­geben.

Um Mit­ter­nacht am 15. April 1989 sitze ich im Haus meines Bru­ders im Gäs­te­zimmer. Von Shef­field bin ich zu ihm nach Not­tingham gefahren, so erfährt er erst um sieben Uhr abends, dass ich über­lebt habe (es gibt noch keine Mobil­te­le­fone). Nach sechs oder sieben Pints Bier und ein paar Schnäpsen bin ich stock­nüch­tern und zit­tere am ganzen Körper. Ich sitze auf dem Bett­rand. Der Mond scheint durch die Vor­hänge. Ich kann nicht schlafen, wegen des Mond­lichts und des Gebrülls der Men­schen, toter Men­schen, die mich anflehen, sie zu retten. Aber ich kann sie nicht retten, weil ich mich nicht bewegen kann. Sie sind nur ein paar Meter ent­fernt, aber ich kann buch­stäb­lich keinen Finger rühren, um ihnen zu helfen. Hilf mir“, sagen sie. Aber alles, was ich und andere tun können, ist dabei zuzu­sehen, wie sie sterben. Das sind wir ihnen schuldig. Und wir werden Zeugnis für sie ablegen.