96 Fußballfans sterben am 15. April 1989 im Stadion von Sheffield. Erst 27 Jahre später erfahren die Toten von Hillsborough Gerechtigkeit. Ein Überlebender erzählt.
Wäre Taylors Bericht damals von Thatcher gebilligt worden, wäre den Angehörigen der Hillsborough-Opfer zügig und reibungslos Gerechtigkeit widerfahren. Innenminister Hurd hätte den Rücktritt des Chefs der South Yorkshire Police gefordert und die Familien wären bereits 1990 zu ihrem Recht gekommen. Wahrscheinlich wären Fußballfans außerdem in der Position gewesen, ein Mitspracherecht bei der Umgestaltung des Sports zu fordern – denn 1989 hatte Taylor bestätigt, dass wir, die Fans, sowohl Opfer als auch zu Unrecht Beschuldigte waren.
Aber nichts dergleichen passierte. Während die Polizei agitierte, schauten der englische Fußballverband, Sheffield Wednesday und die zuständigen Behörden, die in die Tragödie verwickelt waren, einfach weg. Sie kamen nicht nur ungeschoren davon, sondern durften auch noch über die Zukunft des Fußballs entscheiden – bei wenig bis gar keinem Mitspracherecht der Fans. So begannen sie unseren Nationalsport zu verhökern. Auch dank des zweiten Taylor Reports vom Januar 1990, der die Abschaffung der Stehplätze forderte.
1990 kehrte ich zurück
Nach Hillsborough konnte ich ein Jahr lang keinen Fußball ertragen. An einem kalten Frühlingstag im März 1990 kehrte ich schließlich zurück. Liverpool ackerte sich zum 18. Meistertitel, und als ich in Anfield eintraf und oben auf dem Kop stand, wusste ich, dass es ein Fehler war. Um die Wellenbrecher waren noch Schals geschlungen, zu Ehren der Toten. Auf den Mauern standen in schwarzer Schrift ihre Namen geschrieben – Namen, zu denen Stimmen gehörten, die ich nicht aus dem Kopf bekam, mit Bildern dazu, die in der Zeit erstarrt waren. Auf dem Platz bewegten sich die Spieler wie leere Flaschen im Meer und auf der Bank machte Kenny Dalglish, von der Tragödie gezeichnet, seine persönlichen Qualen durch. Nichts davon ergab noch einen Sinn, und als ich das Stadion verließ, war mir klar, dass ich dem Fußball für immer würde den Rücken kehren müssen.
Für immer bedeutete 19 Jahre. Bis zum April 2009 konnte ich es nicht ertragen, Liverpool spielen zu sehen. Als sich der 20. Jahrestag der Katastrophe näherte und keine Gerechtigkeit in Sicht war, schrieb ich eine Geschichte für die Sonntagszeitung „Observer“ über meine Erlebnisse in Hillsborough. Kurz darauf wurde ich von zwei anderen Überlebenden dazu überredet, nach Anfield zurückzukehren. Es war ein Viertelfinale in der Champions League. Chelsea war zu Gast: Emporkömmlinge, neureich, russisch. Ein Spiel mitten in der Woche unter Flutlicht, eine europäische Nacht in Anfield. Als ich auf den Kop kam, hörte ich beinahe auf zu atmen. Über mir flatterten, wie die Segel einer kleinen Armada, dutzende wunderschöne Fahnen: Es war eine Hommage an Xabi Alonso, der damals für Liverpool spielte. Als der Kop „You’ll Never Walk Alone“ anstimmte und das Lied nicht enden zu wollen schien, erinnerte ich mich wieder: Dies ist ein Teil meines Lebens! Ich war bereit, wieder aufs Rad zu steigen.
Unbequeme Wahrheit
Aber wenn ich ehrlich bin, ist es ein Rad mit Stützrädern. Zwar bin ich seit jenem Abend immer wiedergekommen, aber vorsichtig, zaghaft. Ich war in Anfield dabei, als wir im April 2016 den BVB schockten (Sie könnten mich schreien gehört haben), aber es ist nicht mehr dasselbe. Hillsborough bleibt eine Geschichte von Verlust – von 96 Leben, der Idee von Wahrheit und Gerechtigkeit, dem Glauben an unsere öffentlichen Institutionen. Und von so vielem, das die Fans an ihre Klubs und das Spiel gebunden hat, das wir liebten. In den 27 Jahren, die es brauchte, um der britischen Öffentlichkeit die Wahrheit dessen, was im April 1989 in Sheffield passierte, zu erzählen, ist der Fußball zu einem Unterhaltungsprodukt für den globalen Fernsehmarkt umgestaltet worden. Wir werden unermüdlich aufgefordert, hinzuschauen – aber bitteschön nicht zu genau. Denn dann würden wir erkennen: In der unerbittlich kommerzialisierten Reaktion auf Hillsborough haben auch Millionen englischer Fußballfans etwas verloren. Das ist eine weitere unbequeme Wahrheit, die sich hinter der größten Katastrophe in der Geschichte des britischen Sports verbirgt.