96 Fußballfans sterben am 15. April 1989 im Stadion von Sheffield. Erst 27 Jahre später erfahren die Toten von Hillsborough Gerechtigkeit. Ein Überlebender erzählt.
Und da war noch was: die Ablehnung. In Hillsborough lag unser Schicksal in den Händen anderer, in denen von Beamten in dunkelblauen Uniformen, die sich entscheidende Minuten lang von uns abkehrten und nichts unternahmen. Das Minderwertigkeitsgefühl ist kaum in Worte zu fassen. Was ist denn so schlecht an mir – an uns? Warum helft ihr uns nicht? Wir sind keine Hooligans, wir sind Menschen. Und wir sterben hier.
Als im September 2012 der Bericht des „Hillsborough Independent Panel“ veröffentlicht wurde, bedeutete das einen Wendepunkt in der öffentlichen Debatte über die Katastrophe. Die unabhängige Untersuchungskommission deckte die Lügen von Polizei und Rettungskräften auf und kam zu dem Schluss, dass die Fans vollkommen schuldlos an der Tragödie waren. In der Bevölkerung war die Empörung groß, und nun wurden in Warrington neue Untersuchungen aufgenommen.
1000 Zeugen, 5000 Fotos, 1 Erkenntnis
Diese Untersuchungen, die am 26. April dieses Jahres abgeschlossen wurden, entwickelten sich zu den langwierigsten in der britischen Justizgeschichte. Fast 300 Tage lang wurden annährend 1000 Zeugen angehört, 5000 Fotos zugänglich gemacht, dazu ein 27-minütiger Videozusammenschnitt – der letztgültige Beweis, wie sich die Liverpool-Fans außerhalb des Stadions wirklich verhalten hatten. Kein einziges Foto oder Videobild deutete auf ein Fehlverhalten hin, wie es jahrzehntelang von den Polizeianwälten unterstellt worden war.
Aber eine wichtige Frage blieb weiter unbeantwortet: Was um alles in der Welt ging in den Köpfen der Polizeibeamten vor, die sich in Hillsborough am Spielfeldrand befanden? Sie waren wenige Meter von Menschen entfernt, die mit solcher Wucht gegen den Stahlzaun gedrückt wurden, dass er sich zum Spielfeld hin ausbeulte. Die blaue Farbe des Gitters wurde vor ihren Augen in die Gesichter der Opfer gerieben. Warum wandte sich die Polizei ab und schob flüchtende Fans sogar zurück ins Gewühl, bevor sie endlich beschlossen, dass diese Menschen es wert waren, gerettet zu werden?
Einige der Beamten, die damals im Stadion waren, sind mittlerweile verstorben, andere wollten oder konnten krankheitsbedingt nicht aussagen. Ihr Schweigen kaschiert eine der großen unangenehmen Wahrheiten über Hillsborough. Die englische Polizei der achtziger Jahre war nämlich darauf konditioniert, sämtliche Fußballfans als potentielle Hooligans zu betrachten. Deswegen waren in Hillsborough Menschen gestorben. Das ist eine Schande für die damalige konservative Regierung und ihre Anführerin Margaret Thatcher. Sie hatte Fußballfans zu „inneren Feinden“ (wie die IRA) erklärt und uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit kriminalisiert.
„Verpiss dich, Kleiner“
Als die überlebenden Fans damals in Hillsborough anfingen, auf den Rasen zu strömen und keine Ambulanz in Sicht war, wendete ich mich an das Spalier der Polizisten, die an der Mittellinie Stellung bezogen hatten, und beschwor die Beamten, dabei zu helfen, unsere Sterbenden zu retten. „Das hier hat nichts mit Hooliganismus zu tun“, sagte ich. „Es sind zu viele Fans in den Block gelassen worden.“ Ich bin nur 1,70 Meter groß und die Beamten ließen sich nicht mal dazu herab, mich anzusehen und mit mir zu reden. Sie schauten einfach geradeaus. Wir sind groß und du bist klein, schienen sie zu sagen. „Tu was!“, brüllte ich einen Beamten an. „Hilf uns!“ Der Beamte neigte den Kopf zu einem Kollegen und sagte: „Komisch … hörst du auch was?“ Sein Kumpel lachte und sagte dann: „Verpiss dich, Kleiner.“
Also schloss ich mich den Jungs an, die eine Werbebande vor der Haupttribüne auseinandernahmen. Aber bevor wir sie benutzen konnten, kam ein Polizist und stellte sich darauf, so dass wir sie nicht anheben konnten. „Ihr könnt nicht einfach das Stadium verwüsten“, sagte er. Sie waren nicht nur nutzlos, sie behinderten sogar unsere Bemühungen, Leben zu retten. Ein paar Meter entfernt lagen sterbende Menschen auf dem Rasen und dieser Bulle versuchte, einen Streit zu beginnen. Ein Fan lief heran und stieß ihn so heftig von der Bande, dass er Richtung Haupttribüne segelte. Keiner der Zuschauer in der ersten Reihe rührte einen Finger, um ihm zu helfen, und langsam veränderte sich seine Miene „Was mache ich hier eigentlich?“, war darin zu lesen. Ja, was machte er da eigentlich? Und was dachten er und seine Kollegen sich dabei?