96 Fußballfans sterben am 15. April 1989 im Stadion von Sheffield. Erst 27 Jahre später erfahren die Toten von Hillsborough Gerechtigkeit. Ein Überlebender erzählt.
Jahrelang wachte ich immer wieder schweißgebadet auf. Im Schlaf wälzte ich mich im Bett so heftig hin und her, dass ich einmal mit den Füßen auf dem Kissen und dem Kopf über den Bettrand hängend aufwachte. Oft kam ich auf dem Küchenboden wieder zu mir, nachdem ich ohnmächtig geworden war. Ich bekam Panikattacken in überfüllten U‑Bahnen. Eines Tages, so um 1993, als ich gerade Geschirr spülte oder die Katze fütterte oder Zähne putzte, hielt ich plötzlich inne und fragte mich: „Mal ehrlich, warst du überhaupt in Hillsborough?“
Und eines Morgens, ebenfalls 1993, wachte ich in einer Polizeizelle auf. Nicht mehr in der Lage, meine Wut im Zaum zu halten, war ich in London auf mehrere Polizisten losgegangen und wegen Störung der öffentlichen Ordnung festgenommen worden. Auf der Wache reichte man mir ein Anklageprotokoll, das ich durchlesen und unterschreiben sollte. „Aha“, sagte ich … ich nahm das Protokoll, hielt es ins Licht, drehte es um und legte es auf den Schreibtisch. „Nö, kommt nicht in die Tüte“, sagte ich. Auch sie lachten über mich; dann gaben sie mir ein Bett und warfen die Anklage in den Müll.
Seltenes Trauma
1996 passierte es wieder, im Londoner Westen. Aber diesmal nahm mich der diensthabende Beamte, der mich am nächsten Morgen entließ, ins Gebet. Gab mir eine Tasse Tee. Fragte mich, was ich mir dabei gedacht hätte. Ich sagte: „Ich war 1989 in Hillsborough dabei und kann Bullen nicht leiden.“ Er nickte bedächtig und sagte: „Nun ja, das kann ich durchaus verstehen. Aber du kannst so nicht weitermachen. Du wirst dir dein Leben ruinieren.“ Ich saß da, entwaffnet und sprachlos. Endlich hatte jemand aus der Obrigkeit mir zugehört. Es war nicht mehr als ein zweiminütiges Gespräch, aber ich verließ die Wache als geläuterter Mensch.
Hillsborough ist ein seltenes Trauma. Ich weiß das, weil ich dort nicht die einzige Katastrophe überlebt habe. An Heiligabend 2004 fuhr ich mit meiner Freundin in den Urlaub an die Südwestküste von Sri Lanka. Als wir am Zweiten Weihnachtsfeiertag aufwachten, befand sich unser Hotel mitten im Indischen Ozean. Der Tsunami hatte den Meeresspiegel um mehr als zehn Meter angehoben. Die ersten beiden Etagen des dreistöckigen Hotels standen unter Wasser und das Meer drang durch den Fußboden. Deb und ich schauten uns an. Springen wir vom Dach und versuchen, an Land zu schwimmen, wo auch immer das sein mochte? Oder bleiben wir und hoffen, dass das Hotel standhält?
Kein Vergleich
Wir blieben auf dem Dach, und schließlich zog sich das Meer wieder zurück, wir überstanden die Katastrophe unversehrt. Zwei Monate später begann ich eine Therapie. Ich hatte sechs Wochen lang nicht richtig geschlafen und war leicht traumatisiert. Die Therapie schlug an und bald schon war ich wieder der Alte. Ich denke heute nur noch selten daran.
Rund 230 000 Menschen kamen durch den Tsunami von Weihnachten 2004 ums Leben, 96 waren es in Hillsborough. Aber für mich ist Hillsborough ein viel, viel schlimmerer Albtraum. In erster Linie, weil ich in Sri Lanka niemanden sterben sah. Aber da ist noch etwas anderes. Als Deb und ich auf der obersten Etage des Hotels standen, fällten wir eine Entscheidung auf Leben oder Tod: bleiben oder schwimmen? Es war unsere Entscheidung. Wenn man sich mit einer lebensbedrohenden Situation konfrontiert sieht, ist es der fundamentalste menschliche Antrieb, über das eigene Schicksal bestimmen zu wollen. Aber in Hillsborough waren die meisten in Block 3 und 4 machtlos.