96 Fußballfans sterben am 15. April 1989 im Stadion von Sheffield. Erst 27 Jahre später erfahren die Toten von Hillsborough Gerechtigkeit. Ein Überlebender erzählt.
Ich ging zu Bett und irgendwann schlief ich endlich ein. In den nächsten Tagen wachte ich auf und erfuhr, dass ich nicht nur ein Überlebender einer der größten Katastrophen in der Geschichte des Fußballs war, sondern auch ein Mittäter – von der Polizei bezichtigt, am Tod von 95 Menschen mitschuldig zu sein. Das 96. Opfer starb 1993, nach vier Jahren im Koma.
In einer Zeit vor dem Internet, als es noch keine sozialen Medien gab, die die Wahrheit festhielten, brachte die „Sun“, die meistverkaufte Tageszeitung des Landes, vier Tage nach Hillsborough auf der Titelseite eine Story mit der Überschrift „The Truth“. Die Wahrheit, die der Herausgeber des Blattes, Kelvin MacKenzie, darunter verbreitete, war ein Haufen abgefeimter Lügen: dass Liverpool-Fans auf Polizeibeamte uriniert hätten, während diese Erste Hilfe leisteten; dass wir aus den Taschen der Toten gestohlen und einen Sanitäter attackiert hätten. Seine Quelle? Die South Yorkshire Police. Aus heutiger Sicht war das einer der größten Medienskandale des 20. Jahrhunderts. Einer, der sofort Wirkung zeigte.
„Nein.“
Am Tag, als der Artikel erscheint, bin ich auf dem Weg in die Klinik. Es ist ein kalter, stürmischer Frühlingstag. Ich habe Schwierigkeiten beim Atmen, aber während ich im Wartezimmer sitze, weiß ich, dass es nicht mein Körper ist, der Zuwendung braucht. Der Arzt ist alt und ehrwürdig, in Nadelstreifen und mit Brille. Ich berichte ihm leise, dass ich am Samstag in Hillsborough war und meine Brust schmerzt. Hmm, sagt er. Er drückt sein Stethoskop auf meine Haut, dann setzt er sich, um eine Überweisung zum Röntgen auszufüllen. Aber er sieht mich nicht an. Während ich mein Hemd zuknöpfe, blicke ich auf seinen kahlen Schädel. Sieh mich an, sage ich im Stillen. Sieh mich an, du Mistkerl! Aber er sieht mich nicht an.
Schließlich reicht er mir die Überweisung, während er einen Punkt rechts von mir fixiert, und sagt, oder vielmehr murmelt er: „Möchten Sie … möchten Sie mit jemandem darüber reden?“ Ich halte einen Moment inne und sage dann: „Nein.“ Ich stehe auf und bin fast an der Tür, als er sagt: „Sieht so aus, als wären die Liverpool-Fans schuld gewesen, nicht wahr?“ Ich drehe mich zu ihm um, aber alles, was ich empfinde, ist Beschämung – nicht um meinet‑, sondern um seinetwillen. „Tja nun, alles Gute“, sagt er heiter. Darauf beschränkte sich, was mir damals an Therapie zuteilwurde.
Spätfolgen
Es wird Jahrzehnte dauern, den Ruf der Liverpool-Fans wiederherzustellen. So lange werden sie bei Auswärtsspielen mit Gesängen vom Kaliber „Ihr dummen Schweine, ihr habt eure eigenen Fans umgebracht“ empfangen. Viele von uns können die Mischung aus Trauma und Stigma irgendwann nicht mehr ertragen. Ich weiß von einem Überlebenden, „Ian“, der auf Block 3 einen Freund verlor. 2007 brachte ihn ein kontroverser Auftritt von „Sun“-Herausgeber MacKenzie in der BBC dermaßen aus der Fassung, dass er sich wenige Wochen später erhängte.
Dann war da noch Stephen Whittle, der sein Ticket damals einem Freund überließ, der ums Leben kam. Im Februar 2011 stellte sich Stephen vor einen Zug. 2004 wurde ein Kumpel von mir, der sich den Weg aus Block 3 buchstäblich freigekämpft hatte, so von Schuldgefühlen überwältigt, dass er versuchte, seinen Wagen gegen einen Baum zu steuern. Zum Glück war er so betrunken, dass er den Baum verfehlte und stattdessen in ein parkendes Auto krachte. Er überlebte, weitgehend unverletzt. Vor ein paar Jahren schnitt ein anderer Freund sich die Pulsadern auf. Auch er überlebte.