96 Fußballfans sterben am 15. April 1989 im Stadion von Sheffield. Erst 27 Jahre später erfahren die Toten von Hillsborough Gerechtigkeit. Ein Überlebender erzählt.
Unsere Titelgeschichte aus Heft #176 (samt exklusiven Bildern) findet ihr auch im großen 11FREUNDE Buch. Das Buch zum 20-jährigen Jubiläum unseres Magazins gibt es hier.
Am 15. April 1989 trat ich durch einen Tunnel im Hillsborough-Stadion in Sheffield ins Sonnenlicht und dachte: „Wo wärst du an einem Tag wie heute lieber als hier?“ Mein Verein, der FC Liverpool, spielte gegen Nottingham Forest, den Klub meines Bruders, um den Einzug ins FA-Cup-Finale. Er stand auf dem Hillsborough Kop, ich auf der Tribüne an der Leppings Lane, um Barnes, Beardsley, Aldridge, Nicol, Hansen und Whelan anzufeuern. Für mein Ticket hatte ich sechs Pfund bezahlt – ein Schnäppchen, um dieses Team bei diesem Wetter und in diesem altehrwürdigen Stadion spielen sehen zu dürfen.
Als ich um kurz nach zwei Uhr in Block 3 komme, direkt hinter dem Tor, scheint die Tribüne schon so gut wie voll zu sein. Ich lehne mich träge an einen Wellenbrecher und plaudere mit ein paar Kumpels, die nach besseren Plätzen Ausschau halten. Während die Sonne über die Tribüne wandert, vertreiben wir uns die Zeit damit, uns unter „Olé“-Rufen einen Strandball zuzuwerfen. Ich bin sehr froh über meinen Platz, etwa sechs Meter vom blauen Gitterzaun entfernt.
„Hier sind zu viele Leute drin“
Gegen 14.35 Uhr wird es seltsam ungemütlich. Ein Ruck geht durch die Menge und wir werden nach vorn geschubst, aber federn von dort nicht zurück. „Hier sind zu viele Leute drin“, murrt jemand hinter mir. Fast unmerklich kippt die zuvor unbeschwerte Stimmung. Wir sind die harten Kerle vom legendären Liverpooler Kop, uns kann so schnell nichts erschüttern. Aber klammheimlich schauen wir uns um, ob die anderen okay sind und sonst noch jemand beunruhigt ist. Viele von uns sind es, mehr noch: Wir haben Angst, hier stimmt was nicht. Die Menge keucht und wälzt sich. Dann setzt sie sich langsam und widerstrebend fest wie stockender Beton. Die Leute rammen Köpfe in Schultern und Rücken, um Luft zu bekommen; sie setzen Arme und Knie ein, um sich ein klein wenig Platz zu verschaffen. Hände drücken gegen meinen Rücken und Füße gegen meine Waden. Ich spüre jemandes heißen Atem in meinem Nacken. Niemand hat mehr die Kontrolle über seine Bewegungen, schließlich verliert hinter mir jemand die Nerven und brüllt: „Macht das verdammte Tor auf!“
Um 14.52 Uhr öffnet tatsächlich jemand ein Tor, aber es ist nicht das Tor im Sicherheitszaun, durch das wir aufs Spielfeld entkommen könnten. Es ist das Tor C der Tribüne, das eigentlich als Ausgang dient. 2000 Menschen, die sich eben noch vor dem Eingangstor hinter der Kurve gedrängt haben, werden ins Stadion gelassen. Da keine Polizisten bereitstehen, um sie in die relativ leeren Blöcke rechts und links von uns zu leiten, kommen diese 2000 Menschen fast gleichzeitig in einen vier Meter breiten Tunnel mit 16 Prozent Gefälle.
Unterträgliche Schreie
Durch die Verdichtung der Menge werden die Leute buchstäblich in die Blöcke 3 und 4 geblasen. Manche werden mit Wucht erfasst und so um die eigene Achse gedreht, dass sie mit dem Rücken zuerst die Tribüne betreten. Manche werden durch die Menge auf Block 3 hindurch bis zum Zaun geschleudert. Nun rund vier Meter vom Zaun entfernt habe ich das Gefühl, als hätte mir jemand mit einem Hammer zwischen die Schulterblätter geschlagen. Aber ich habe noch Glück: Ich werde mitten auf den Rücken getroffen und nach vorn gedrückt. Andere erwischt es an der Schulter, sie werden herumgewirbelt und gehen zu Boden. Und stehen nicht mehr auf.
Das Schreien wird nun unerträglich. Aber niemand kommt, um uns zu helfen. Leute, die sich aus dem Gewühl befreien können und den Zaun erklimmen, werden oben, an der stachelbewehrten Spitze, von Polizisten, die von der anderen Seite aus hinaufklettern, empfangen. Die Fans sagen der Polizei, dass wir Hilfe brauchen. Die Polizei schubst die Fans zurück ins Gewühl.
Einen Fußballer bekomme ich an diesem Tag nicht zu sehen. Es ist kurz nach drei und ich schwanke nun zwischen diesem Leben und dem nächsten. Inzwischen ist das Spiel angepfiffen worden. Auf der Nordtribüne kann ich Leute erkennen, die das Spiel verfolgen. Andere blicken in unsere Richtung und gestikulieren aufgebracht oder laufen die Mittelgänge hinunter zum Spielfeld, um sich bei der Polizei Gehör zu verschaffen. Aber sie sind zu weit weg. Um mich herum, nur wenige Meter entfernt, ringen Menschen um ihr Leben.
Nun gerät die Menge durch den Druck von hinten wieder in Bewegung: 50 oder 60 von uns werden in einer komprimierten Masse aus Gliedmaßen gegeneinandergepresst. Wir werden langsam herumgeschleudert, wie Kleidungsstücke in einer überfüllten Waschmaschine. Hin und her, und rauf und runter. Die ersten Menschen sterben, wie fast alle anderen nach ihnen sterben werden, an Asphyxie. Ihr Brustkorb wird zusammengedrückt, und alles Blut schießt in Hals und Kopf. Jene, die inzwischen gestorben sind, werden mit uns allen herumgeworfen wie Schaufensterpuppen. Ihre Augen bewegen sich nicht, aber einem von ihnen rinnen noch die Tränen die Wangen hinab.
Ich bin am Ende meiner Kräfte und schreie, aber niemand kommt, um zu helfen. Mir bleiben vielleicht noch 50 Sekunden zu leben – genau 50 Sekunden, so sagt mir mein Verstand. 50 Sekunden zu leben … ich muss mich von meiner Familie verabschieden, von meinen Kumpels, meiner Freundin. Schnell! Und dann werde ich schreien, bis ich sterbe, nur für den Fall – nur für den Fall, dass uns die Polizei endlich erhört. Aber jetzt bin ich müde und kann mich vom Hals abwärts nicht mehr bewegen. Ich könnte jetzt einfach einschlafen. Ich werde schlafen, denn ich bin 19 Jahre alt und ich weiß, dass ich gleich sterbe.
„Er ist mein Bruder“
Als mein Gehirn meinen Körper mit Endorphinen zu überschwemmen beginnt, werde ich, wie in einer Blase aus warmem Wasser, über die Menge gehoben. Es ist seltsam friedlich. Dann ein lautes Rufen, ein krächzendes, aggressives Rufen eines Polizisten in einem Yorkshire-Dialekt: „Geht zurück, ihr blöden Arschlöcher!“ Sie glauben, wir wollen den Platz stürmen. Sekunden, vielleicht Minuten später, mache ich wieder die Augen auf. Der Himmel ist immer noch blau und die Polizei hat endlich das Tor im Zaun geöffnet. Zum ersten Mal seit einer Stunde stehe ich wieder aufrecht, ohne dass sich jemand an mich drängt. Ich bin unversehrt. Während ich mich noch nach gebrochenen Rippen oder Knochen abtaste, kippen vor mir ein paar Leute um und schlagen auf dem Beton auf. Auf dem Boden stapelt sich ein Haufen verschlungener Körper, einen Meter hoch. Nach einigen Sekunden sehe ich, wie sich etwas bewegt, und mir wird klar, dass da drin noch jemand am Leben ist. Ein Polizist, der durch das Tor gekommen ist, erklärt später, es sei eine Szenerie gewesen „wie in Bergen-Belsen“.
In der nächsten halben Stunde, während die Polizei sich schon beeilt, gegenüber der BBC, dem englischen Fußballverband und dem FC Liverpool klarzustellen, dass die Liverpooler Fans die Katastrophe herbeigeführt hätten, indem sie die Eingangstore stürmten, nehmen ich und hunderte andere Überlebende die Werbebanden auseinander, um sie als Tragen zu benutzen. Ein paar von uns heben einen toten Mann auf, der teilweise entkleidet neben der Torauslinie liegt. Wir legen ihn auf eine Bande und laufen in Richtung Tribüne, wo die Forest-Fans stehen. Als wir dort keine Sanitäter finden, verlassen wir das Stadion über eine Rampe und werden von der Polizei zu einer Turnhalle geleitet, die als provisorische Leichenhalle dient. Hinter einem Badmintonnetz liegen, abgedeckt mit Tüchern, reihenweise Leichen aufgebahrt, jeweils einen Polizeihelm auf der Brust. Polizisten sitzen am Rande der Halle, auf Stühlen oder auf dem Boden, weinend, völlig aufgelöst. Einer schlägt seinen Kopf gegen die Wand. Am Boden kümmern sich Gruppen von je zwei oder drei Leuten um die Opfer: Manche klopfen ihnen verzweifelt auf die Brust, andere probieren es mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Ein Mann kniet und hält den Kopf eines Burschen in einer schwarzen Jacke, wiegt ihn sachte hin und her, während er weint. „Er ist mein Bruder“, sagt er, schluchzend. „Er ist mein Bruder.“ Aber er wacht nicht mehr auf.
Ich halte die Hand des toten Mannes, den wir aufgelesen haben. Sie ist kalt und schweißnass. Er ist bleischwer, aber es widerstrebt mir, ihn loszulassen. Jemand beugt sich über eines der Opfer auf dem Boden und beginnt, ihm die Letzte Ölung zu erteilen. Und in meinem Kopf sagt eine Stimme nur: „Du musst hier raus, sofort, sonst verlierst du den Verstand.“
Ich zittere am ganzen Körper
Mein Verstand ist an jenem Tag an der Leppings Lane nachhaltig erschüttert worden. Meine heutigen Erinnerungen sind Bruchstücke und Geräuschfetzen. Ich entsinne mich der Farben: das strahlende Blau des Himmels und des stählernen Gitterzauns, das blasse Grün des Rasens, das bräunliche Rosarot von Erbrochenem, das Umstehenden am Kinn hinabrinnt, das Dunkelblau der Polizisten, die vorübergehen. Unvermittelt klingen mir Geräusche in den Ohren – Menschen, die weinen, um Atem ringen, um ihr Leben schreien. Das Knacken eines nachgebenden Wellenbrechers – ein Schrei, als drei Reihen von Menschen zu Boden gehen. Das Geräusch brechender Knochen (war das real oder habe ich es mir eingebildet?). Und dann ist da noch der Gestank nach Exkrementen und Urin, als im Gewühl unsere Organe zermalmt werden, als Blasen und Gedärme nachgeben.
Um Mitternacht am 15. April 1989 sitze ich im Haus meines Bruders im Gästezimmer. Von Sheffield bin ich zu ihm nach Nottingham gefahren, so erfährt er erst um sieben Uhr abends, dass ich überlebt habe (es gibt noch keine Mobiltelefone). Nach sechs oder sieben Pints Bier und ein paar Schnäpsen bin ich stocknüchtern und zittere am ganzen Körper. Ich sitze auf dem Bettrand. Der Mond scheint durch die Vorhänge. Ich kann nicht schlafen, wegen des Mondlichts und des Gebrülls der Menschen, toter Menschen, die mich anflehen, sie zu retten. Aber ich kann sie nicht retten, weil ich mich nicht bewegen kann. Sie sind nur ein paar Meter entfernt, aber ich kann buchstäblich keinen Finger rühren, um ihnen zu helfen. „Hilf mir“, sagen sie. Aber alles, was ich und andere tun können, ist dabei zuzusehen, wie sie sterben. Das sind wir ihnen schuldig. Und wir werden Zeugnis für sie ablegen.
Ich ging zu Bett und irgendwann schlief ich endlich ein. In den nächsten Tagen wachte ich auf und erfuhr, dass ich nicht nur ein Überlebender einer der größten Katastrophen in der Geschichte des Fußballs war, sondern auch ein Mittäter – von der Polizei bezichtigt, am Tod von 95 Menschen mitschuldig zu sein. Das 96. Opfer starb 1993, nach vier Jahren im Koma.
In einer Zeit vor dem Internet, als es noch keine sozialen Medien gab, die die Wahrheit festhielten, brachte die „Sun“, die meistverkaufte Tageszeitung des Landes, vier Tage nach Hillsborough auf der Titelseite eine Story mit der Überschrift „The Truth“. Die Wahrheit, die der Herausgeber des Blattes, Kelvin MacKenzie, darunter verbreitete, war ein Haufen abgefeimter Lügen: dass Liverpool-Fans auf Polizeibeamte uriniert hätten, während diese Erste Hilfe leisteten; dass wir aus den Taschen der Toten gestohlen und einen Sanitäter attackiert hätten. Seine Quelle? Die South Yorkshire Police. Aus heutiger Sicht war das einer der größten Medienskandale des 20. Jahrhunderts. Einer, der sofort Wirkung zeigte.
„Nein.“
Am Tag, als der Artikel erscheint, bin ich auf dem Weg in die Klinik. Es ist ein kalter, stürmischer Frühlingstag. Ich habe Schwierigkeiten beim Atmen, aber während ich im Wartezimmer sitze, weiß ich, dass es nicht mein Körper ist, der Zuwendung braucht. Der Arzt ist alt und ehrwürdig, in Nadelstreifen und mit Brille. Ich berichte ihm leise, dass ich am Samstag in Hillsborough war und meine Brust schmerzt. Hmm, sagt er. Er drückt sein Stethoskop auf meine Haut, dann setzt er sich, um eine Überweisung zum Röntgen auszufüllen. Aber er sieht mich nicht an. Während ich mein Hemd zuknöpfe, blicke ich auf seinen kahlen Schädel. Sieh mich an, sage ich im Stillen. Sieh mich an, du Mistkerl! Aber er sieht mich nicht an.
Schließlich reicht er mir die Überweisung, während er einen Punkt rechts von mir fixiert, und sagt, oder vielmehr murmelt er: „Möchten Sie … möchten Sie mit jemandem darüber reden?“ Ich halte einen Moment inne und sage dann: „Nein.“ Ich stehe auf und bin fast an der Tür, als er sagt: „Sieht so aus, als wären die Liverpool-Fans schuld gewesen, nicht wahr?“ Ich drehe mich zu ihm um, aber alles, was ich empfinde, ist Beschämung – nicht um meinet‑, sondern um seinetwillen. „Tja nun, alles Gute“, sagt er heiter. Darauf beschränkte sich, was mir damals an Therapie zuteilwurde.
Spätfolgen
Es wird Jahrzehnte dauern, den Ruf der Liverpool-Fans wiederherzustellen. So lange werden sie bei Auswärtsspielen mit Gesängen vom Kaliber „Ihr dummen Schweine, ihr habt eure eigenen Fans umgebracht“ empfangen. Viele von uns können die Mischung aus Trauma und Stigma irgendwann nicht mehr ertragen. Ich weiß von einem Überlebenden, „Ian“, der auf Block 3 einen Freund verlor. 2007 brachte ihn ein kontroverser Auftritt von „Sun“-Herausgeber MacKenzie in der BBC dermaßen aus der Fassung, dass er sich wenige Wochen später erhängte.
Dann war da noch Stephen Whittle, der sein Ticket damals einem Freund überließ, der ums Leben kam. Im Februar 2011 stellte sich Stephen vor einen Zug. 2004 wurde ein Kumpel von mir, der sich den Weg aus Block 3 buchstäblich freigekämpft hatte, so von Schuldgefühlen überwältigt, dass er versuchte, seinen Wagen gegen einen Baum zu steuern. Zum Glück war er so betrunken, dass er den Baum verfehlte und stattdessen in ein parkendes Auto krachte. Er überlebte, weitgehend unverletzt. Vor ein paar Jahren schnitt ein anderer Freund sich die Pulsadern auf. Auch er überlebte.
In den ersten sechs Wochen plagen auch mich Schuldgefühle, davongekommen zu sein. Warum habe ich überlebt, wo so viele andere gestorben sind? Ich rede mir ein, dass ich es nicht verdiene weiterzuleben, denn ich habe mir dieses Recht nicht erworben: Es war reines Glück, somit habe ich es nicht verdient. Also fange ich an, mich selbst zu hassen und möchte nicht mehr leben. Aber ich muss weitermachen, denn von nun an muss mein Leben einen Sinn haben. Ich bin verschont worden, und wenn ich auch nur einen einzigen Tag verschwende, hintergehe ich diejenigen, die gestorben sind.
Ich weiß, dass ich keinen Fußball mehr will. Das FA-Cup-Finale ’89 nehme ich kaum wahr: Liverpool schlägt Everton, und gedankenlose Kommentatoren reden über einen Blechkübel, der in die Höhe gereckt wird, als wäre das eine angemessene Ehrenbezeugung für die Toten.
Dann wendet sich die Polizei an mich, um meine Aussage aufzunehmen. Nachdem die Medien die Liverpool-Fans monatelang durch den Dreck gezogen haben, komme ich endlich dazu, meine Wahrheit zu erzählen.
Wer irrt sich? Und wer will sich irren?
Im Juli 1989 suchen mich zwei Beamte in Zivil bei mir zu Hause in Stevenage auf. Es ist ein Sonntag, gegen zwei Uhr am Nachmittag und im Fernsehen läuft Golf. Ich beginne zu erzählen, was geschehen ist, und sie fangen an, mich auszulachen. Bald darauf schnauben sie, gähnen und wenden sich ab, um Golf zu schauen. Sie nicken sarkastisch, als ich ihnen von den Versäumnissen der Polizei erzähle und wie sie uns malträtierten, als wir versuchten, die Sterbenden zu retten.
Dann reichen sie mir meine Aussage, die sie während der Befragung mitgeschrieben haben. „Würden Sie das bitte durchlesen und unterschreiben?“ Aber sie haben die Bedeutung bestimmter Vorkommnisse verändert und wichtige Details ausgelassen. „Was denn zum Beispiel?“, will der Beamte wissen. Nun ja, antworte ich, dies ist passiert und jenes ist passiert. Er schüttelt den Kopf. „Das ist nicht passiert“, sagt er.
Mehrfach teilen sie mir mit, dass ich mich irre; dass ich nichts Relevantes gesehen habe; dass es dort, wo ich gestanden hatte, nicht so schlimm gewesen sei und dass ich bei der bevorstehenden Untersuchung kein brauchbarer Zeuge sein werde. Meine Darstellung sei nicht überzeugend und werde am besten zu den Akten gelegt. „Wenn Sie also einfach die Aussage unterschreiben würden, verschwinden wir und Sie können wieder Ihrem Leben nachgehen.“
Das erste Urteil: Ein Unfall
Während ich zunehmend wütender werde, stellt der Beamte, der die Fernbedienung in den Händen hält, den Fernseher immer lauter. Ich muss schreien, um mir in meinem eigenen Wohnzimmer Gehör zu verschaffen, und sie versuchen, mich zu übertönen. Schließlich unterschreibe ich die Aussage und sie hauen ab.
Damals, im Sommer 1989, kann ich nicht ahnen, dass ich in einen der größten Vertuschungsversuche in der Geschichte der britischen Rechtsprechung verstrickt bin. Also schließe ich einfach die Tür, murmele, dass sie sich verpissen sollen, gehe in meine Schlafzimmer und breche zusammen. Aber in meinem Kopf haben sie einen schrecklichen, winzigen Samen des Zweifels gesät. Wo Sie waren, war es nicht so schlimm. Sie haben nichts gesehen. Ihre Erinnerung ist fehlerhaft. Sie sind gekommen, um meine Wahrheit zu stehlen. Schlimmer noch, sie haben angedeutet, dass ich fantasiere; dass ich überzogen reagiert habe. Ich bin zu empfindlich, denke ich; und außerdem weich in der Birne.
Die ersten Untersuchungen zu Hillsborough wurden im März 1991 abgeschlossen. Der Urteilsspruch: Ein Unfall, niemand trug die Verantwortung an der Katastrophe. Der kleine Samen des Zweifels schlug Wurzeln und wuchs und wuchs. Vielleicht hatte ich mich geirrt und hatte überreagiert. Aber das passte nicht zu meinen ständigen Albträumen und den Bergen an Leichen. Es war wie Bergen-Belsen. Wo Sie waren, war es nicht so schlimm.
Jahrelang wachte ich immer wieder schweißgebadet auf. Im Schlaf wälzte ich mich im Bett so heftig hin und her, dass ich einmal mit den Füßen auf dem Kissen und dem Kopf über den Bettrand hängend aufwachte. Oft kam ich auf dem Küchenboden wieder zu mir, nachdem ich ohnmächtig geworden war. Ich bekam Panikattacken in überfüllten U‑Bahnen. Eines Tages, so um 1993, als ich gerade Geschirr spülte oder die Katze fütterte oder Zähne putzte, hielt ich plötzlich inne und fragte mich: „Mal ehrlich, warst du überhaupt in Hillsborough?“
Und eines Morgens, ebenfalls 1993, wachte ich in einer Polizeizelle auf. Nicht mehr in der Lage, meine Wut im Zaum zu halten, war ich in London auf mehrere Polizisten losgegangen und wegen Störung der öffentlichen Ordnung festgenommen worden. Auf der Wache reichte man mir ein Anklageprotokoll, das ich durchlesen und unterschreiben sollte. „Aha“, sagte ich … ich nahm das Protokoll, hielt es ins Licht, drehte es um und legte es auf den Schreibtisch. „Nö, kommt nicht in die Tüte“, sagte ich. Auch sie lachten über mich; dann gaben sie mir ein Bett und warfen die Anklage in den Müll.
Seltenes Trauma
1996 passierte es wieder, im Londoner Westen. Aber diesmal nahm mich der diensthabende Beamte, der mich am nächsten Morgen entließ, ins Gebet. Gab mir eine Tasse Tee. Fragte mich, was ich mir dabei gedacht hätte. Ich sagte: „Ich war 1989 in Hillsborough dabei und kann Bullen nicht leiden.“ Er nickte bedächtig und sagte: „Nun ja, das kann ich durchaus verstehen. Aber du kannst so nicht weitermachen. Du wirst dir dein Leben ruinieren.“ Ich saß da, entwaffnet und sprachlos. Endlich hatte jemand aus der Obrigkeit mir zugehört. Es war nicht mehr als ein zweiminütiges Gespräch, aber ich verließ die Wache als geläuterter Mensch.
Hillsborough ist ein seltenes Trauma. Ich weiß das, weil ich dort nicht die einzige Katastrophe überlebt habe. An Heiligabend 2004 fuhr ich mit meiner Freundin in den Urlaub an die Südwestküste von Sri Lanka. Als wir am Zweiten Weihnachtsfeiertag aufwachten, befand sich unser Hotel mitten im Indischen Ozean. Der Tsunami hatte den Meeresspiegel um mehr als zehn Meter angehoben. Die ersten beiden Etagen des dreistöckigen Hotels standen unter Wasser und das Meer drang durch den Fußboden. Deb und ich schauten uns an. Springen wir vom Dach und versuchen, an Land zu schwimmen, wo auch immer das sein mochte? Oder bleiben wir und hoffen, dass das Hotel standhält?
Kein Vergleich
Wir blieben auf dem Dach, und schließlich zog sich das Meer wieder zurück, wir überstanden die Katastrophe unversehrt. Zwei Monate später begann ich eine Therapie. Ich hatte sechs Wochen lang nicht richtig geschlafen und war leicht traumatisiert. Die Therapie schlug an und bald schon war ich wieder der Alte. Ich denke heute nur noch selten daran.
Rund 230 000 Menschen kamen durch den Tsunami von Weihnachten 2004 ums Leben, 96 waren es in Hillsborough. Aber für mich ist Hillsborough ein viel, viel schlimmerer Albtraum. In erster Linie, weil ich in Sri Lanka niemanden sterben sah. Aber da ist noch etwas anderes. Als Deb und ich auf der obersten Etage des Hotels standen, fällten wir eine Entscheidung auf Leben oder Tod: bleiben oder schwimmen? Es war unsere Entscheidung. Wenn man sich mit einer lebensbedrohenden Situation konfrontiert sieht, ist es der fundamentalste menschliche Antrieb, über das eigene Schicksal bestimmen zu wollen. Aber in Hillsborough waren die meisten in Block 3 und 4 machtlos.
Und da war noch was: die Ablehnung. In Hillsborough lag unser Schicksal in den Händen anderer, in denen von Beamten in dunkelblauen Uniformen, die sich entscheidende Minuten lang von uns abkehrten und nichts unternahmen. Das Minderwertigkeitsgefühl ist kaum in Worte zu fassen. Was ist denn so schlecht an mir – an uns? Warum helft ihr uns nicht? Wir sind keine Hooligans, wir sind Menschen. Und wir sterben hier.
Als im September 2012 der Bericht des „Hillsborough Independent Panel“ veröffentlicht wurde, bedeutete das einen Wendepunkt in der öffentlichen Debatte über die Katastrophe. Die unabhängige Untersuchungskommission deckte die Lügen von Polizei und Rettungskräften auf und kam zu dem Schluss, dass die Fans vollkommen schuldlos an der Tragödie waren. In der Bevölkerung war die Empörung groß, und nun wurden in Warrington neue Untersuchungen aufgenommen.
1000 Zeugen, 5000 Fotos, 1 Erkenntnis
Diese Untersuchungen, die am 26. April dieses Jahres abgeschlossen wurden, entwickelten sich zu den langwierigsten in der britischen Justizgeschichte. Fast 300 Tage lang wurden annährend 1000 Zeugen angehört, 5000 Fotos zugänglich gemacht, dazu ein 27-minütiger Videozusammenschnitt – der letztgültige Beweis, wie sich die Liverpool-Fans außerhalb des Stadions wirklich verhalten hatten. Kein einziges Foto oder Videobild deutete auf ein Fehlverhalten hin, wie es jahrzehntelang von den Polizeianwälten unterstellt worden war.
Aber eine wichtige Frage blieb weiter unbeantwortet: Was um alles in der Welt ging in den Köpfen der Polizeibeamten vor, die sich in Hillsborough am Spielfeldrand befanden? Sie waren wenige Meter von Menschen entfernt, die mit solcher Wucht gegen den Stahlzaun gedrückt wurden, dass er sich zum Spielfeld hin ausbeulte. Die blaue Farbe des Gitters wurde vor ihren Augen in die Gesichter der Opfer gerieben. Warum wandte sich die Polizei ab und schob flüchtende Fans sogar zurück ins Gewühl, bevor sie endlich beschlossen, dass diese Menschen es wert waren, gerettet zu werden?
Einige der Beamten, die damals im Stadion waren, sind mittlerweile verstorben, andere wollten oder konnten krankheitsbedingt nicht aussagen. Ihr Schweigen kaschiert eine der großen unangenehmen Wahrheiten über Hillsborough. Die englische Polizei der achtziger Jahre war nämlich darauf konditioniert, sämtliche Fußballfans als potentielle Hooligans zu betrachten. Deswegen waren in Hillsborough Menschen gestorben. Das ist eine Schande für die damalige konservative Regierung und ihre Anführerin Margaret Thatcher. Sie hatte Fußballfans zu „inneren Feinden“ (wie die IRA) erklärt und uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit kriminalisiert.
„Verpiss dich, Kleiner“
Als die überlebenden Fans damals in Hillsborough anfingen, auf den Rasen zu strömen und keine Ambulanz in Sicht war, wendete ich mich an das Spalier der Polizisten, die an der Mittellinie Stellung bezogen hatten, und beschwor die Beamten, dabei zu helfen, unsere Sterbenden zu retten. „Das hier hat nichts mit Hooliganismus zu tun“, sagte ich. „Es sind zu viele Fans in den Block gelassen worden.“ Ich bin nur 1,70 Meter groß und die Beamten ließen sich nicht mal dazu herab, mich anzusehen und mit mir zu reden. Sie schauten einfach geradeaus. Wir sind groß und du bist klein, schienen sie zu sagen. „Tu was!“, brüllte ich einen Beamten an. „Hilf uns!“ Der Beamte neigte den Kopf zu einem Kollegen und sagte: „Komisch … hörst du auch was?“ Sein Kumpel lachte und sagte dann: „Verpiss dich, Kleiner.“
Also schloss ich mich den Jungs an, die eine Werbebande vor der Haupttribüne auseinandernahmen. Aber bevor wir sie benutzen konnten, kam ein Polizist und stellte sich darauf, so dass wir sie nicht anheben konnten. „Ihr könnt nicht einfach das Stadium verwüsten“, sagte er. Sie waren nicht nur nutzlos, sie behinderten sogar unsere Bemühungen, Leben zu retten. Ein paar Meter entfernt lagen sterbende Menschen auf dem Rasen und dieser Bulle versuchte, einen Streit zu beginnen. Ein Fan lief heran und stieß ihn so heftig von der Bande, dass er Richtung Haupttribüne segelte. Keiner der Zuschauer in der ersten Reihe rührte einen Finger, um ihm zu helfen, und langsam veränderte sich seine Miene „Was mache ich hier eigentlich?“, war darin zu lesen. Ja, was machte er da eigentlich? Und was dachten er und seine Kollegen sich dabei?
Endlich, nach 27 Jahren, haben wir nun Gerechtigkeit bekommen – und das hat mein Leben verändert. Es fühlt sich an, als hätte sich aus meinem Kopf ein Nebel verzogen, der darin gefangen war, seit ich 19 war. Ich habe, als Überlebender und als Journalist, einen kleinen Beitrag dazu geleistet, den größten Justizirrtum der britischen Geschichte zu korrigieren. Jetzt möchte ich mich endlich meiner Gartenarbeit widmen, ein Buch lesen und mir eine Katze zulegen. Einfache, alltägliche Dinge tun, statt gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen und mir Sorgen zu machen, dass andere Überlebende, meine Freunde, sich das Leben nehmen. Das werden sie jetzt nicht mehr tun. Gerechtigkeit ist nämlich viel mehr als ein simples Rechtsinstrument. Zwei Wochen nach dem Urteilsspruch, ich war im Urlaub in Devon, machte ich eine merkwürdige Entdeckung: Ich fühlte mich wieder mit dem England verbunden, das ich vor 1989 gekannt und geliebt hatte. Es ist, als hätte ich die 27 Jahre dazwischen in einem anderen Land gelebt.
Geschichte eines Verlusts
Hillsborough ist die Geschichte eines Verlusts, der auch heute noch schwer zu bemessen ist. Millionen englischer Fußballfans glauben, dass unser Nationalsport am 15. April 1989 als Kulturgut verloren ging. Doch die jüngsten Untersuchungen in Warrington haben auch bestätigt, was ich schon viel früher wusste: Der moderne englische Fußball wurde auf einer monumentalen Lüge errichtet.
Zur Erinnerung: 1989 hatte der englische Fußball ein von Ausschreitungen geprägtes Jahrzehnt hinter sich. Die Obrigkeit gab die Schuld daran einer Schicht von Leuten, die sie als wertlos betrachtete: der entfremdeten Arbeiterklasse. Die Öffentlichkeit wurde von Politikern, den Medien und der Premierministerin sogar davor gewarnt, zu Fußballspielen zu gehen. Auf der anderen Seite gab es eine wortgewandte Lobby von Fans, die Probleme ansprach, die Bedingungen in den baufälligen Stadien beispielsweise. Oder die Art und Weise, wie wir in den Medien dargestellt und von der Polizei behandelt wurden. Dann passierte Hillsborough. Allen war klar: So können wir nicht weitermachen! Unser Fußball bedarf radikaler Reformen! Aber wer würde sich in der Debatte durchsetzen, die Fans oder die Obrigkeit?
Der Taylor Report
Während noch Liverpool-Fans in Krankenhäusern im Sterben lagen, bestellte die Regierung einen Richter und wies ihn an, sich ein Bild davon zu machen, was am 15. April 1989 in Sheffield passiert war, und dann eine Empfehlung auszusprechen. Lord Justice Taylor war ein mutiger Mann und betätigte in seinem ersten Bericht, der bereits im Juli erschien, dass die Katastrophe durch das inkompetente Vorgehen der Polizeikräfte verursacht worden sei, durch Versäumnisse von Seiten des gastgebenden Klubs, der Baustatiker, des Fußballverbandes und der örtlichen Behörden. Sein erster Taylor Report erschien schon im Juli 1989 und untermauerte, was die marginalisierten Fußballfans schon lange gesagt hatten.
Für Premierministerin Margaret Thatcher war das ein schwerer Schlag, denn der Bericht unterlief ihr Vorhaben, eine Ausweispflicht für Fußballfans einzuführen. Als er publik gemacht wurde, billigte die Regierung den Report nicht vollständig, sondern behandelte ihn als Debattenbeitrag. 2012 förderte das „Hillsborough Independent Panel“ ein internes Regierungsmemorandum zutage, demzufolge der damalige Innenminister Douglas Hurd nach Erhalt des Taylor Reports die Premierministerin darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass der Chef der South Yorkshire Police nach seinem Dafürhalten „zurücktreten müsse …, da die Tragweite der Katastrophe und das Ausmaß, in dem der Bericht die Polizei belastet, dies unumgänglich mache.“ Aber Thatcher zwang Hurd, den Mund zu halten. Mit diesem Rückhalt durch den mächtigsten britischen Politiker seit Winston Churchill begann die South Yorkshire Police, den Taylor Report öffentlich zu diskreditieren. „Warten wir ab, bis die Untersuchungen beginnen“, hieß es, „dann werden Sie eine andere Seite der Geschichte zu sehen bekommen.“ Und genau das bekam die Öffentlichkeit dann auch. Die Polizei schrieb die Geschichte um.
Wäre Taylors Bericht damals von Thatcher gebilligt worden, wäre den Angehörigen der Hillsborough-Opfer zügig und reibungslos Gerechtigkeit widerfahren. Innenminister Hurd hätte den Rücktritt des Chefs der South Yorkshire Police gefordert und die Familien wären bereits 1990 zu ihrem Recht gekommen. Wahrscheinlich wären Fußballfans außerdem in der Position gewesen, ein Mitspracherecht bei der Umgestaltung des Sports zu fordern – denn 1989 hatte Taylor bestätigt, dass wir, die Fans, sowohl Opfer als auch zu Unrecht Beschuldigte waren.
Aber nichts dergleichen passierte. Während die Polizei agitierte, schauten der englische Fußballverband, Sheffield Wednesday und die zuständigen Behörden, die in die Tragödie verwickelt waren, einfach weg. Sie kamen nicht nur ungeschoren davon, sondern durften auch noch über die Zukunft des Fußballs entscheiden – bei wenig bis gar keinem Mitspracherecht der Fans. So begannen sie unseren Nationalsport zu verhökern. Auch dank des zweiten Taylor Reports vom Januar 1990, der die Abschaffung der Stehplätze forderte.
1990 kehrte ich zurück
Nach Hillsborough konnte ich ein Jahr lang keinen Fußball ertragen. An einem kalten Frühlingstag im März 1990 kehrte ich schließlich zurück. Liverpool ackerte sich zum 18. Meistertitel, und als ich in Anfield eintraf und oben auf dem Kop stand, wusste ich, dass es ein Fehler war. Um die Wellenbrecher waren noch Schals geschlungen, zu Ehren der Toten. Auf den Mauern standen in schwarzer Schrift ihre Namen geschrieben – Namen, zu denen Stimmen gehörten, die ich nicht aus dem Kopf bekam, mit Bildern dazu, die in der Zeit erstarrt waren. Auf dem Platz bewegten sich die Spieler wie leere Flaschen im Meer und auf der Bank machte Kenny Dalglish, von der Tragödie gezeichnet, seine persönlichen Qualen durch. Nichts davon ergab noch einen Sinn, und als ich das Stadion verließ, war mir klar, dass ich dem Fußball für immer würde den Rücken kehren müssen.
Für immer bedeutete 19 Jahre. Bis zum April 2009 konnte ich es nicht ertragen, Liverpool spielen zu sehen. Als sich der 20. Jahrestag der Katastrophe näherte und keine Gerechtigkeit in Sicht war, schrieb ich eine Geschichte für die Sonntagszeitung „Observer“ über meine Erlebnisse in Hillsborough. Kurz darauf wurde ich von zwei anderen Überlebenden dazu überredet, nach Anfield zurückzukehren. Es war ein Viertelfinale in der Champions League. Chelsea war zu Gast: Emporkömmlinge, neureich, russisch. Ein Spiel mitten in der Woche unter Flutlicht, eine europäische Nacht in Anfield. Als ich auf den Kop kam, hörte ich beinahe auf zu atmen. Über mir flatterten, wie die Segel einer kleinen Armada, dutzende wunderschöne Fahnen: Es war eine Hommage an Xabi Alonso, der damals für Liverpool spielte. Als der Kop „You’ll Never Walk Alone“ anstimmte und das Lied nicht enden zu wollen schien, erinnerte ich mich wieder: Dies ist ein Teil meines Lebens! Ich war bereit, wieder aufs Rad zu steigen.
Unbequeme Wahrheit
Aber wenn ich ehrlich bin, ist es ein Rad mit Stützrädern. Zwar bin ich seit jenem Abend immer wiedergekommen, aber vorsichtig, zaghaft. Ich war in Anfield dabei, als wir im April 2016 den BVB schockten (Sie könnten mich schreien gehört haben), aber es ist nicht mehr dasselbe. Hillsborough bleibt eine Geschichte von Verlust – von 96 Leben, der Idee von Wahrheit und Gerechtigkeit, dem Glauben an unsere öffentlichen Institutionen. Und von so vielem, das die Fans an ihre Klubs und das Spiel gebunden hat, das wir liebten. In den 27 Jahren, die es brauchte, um der britischen Öffentlichkeit die Wahrheit dessen, was im April 1989 in Sheffield passierte, zu erzählen, ist der Fußball zu einem Unterhaltungsprodukt für den globalen Fernsehmarkt umgestaltet worden. Wir werden unermüdlich aufgefordert, hinzuschauen – aber bitteschön nicht zu genau. Denn dann würden wir erkennen: In der unerbittlich kommerzialisierten Reaktion auf Hillsborough haben auch Millionen englischer Fußballfans etwas verloren. Das ist eine weitere unbequeme Wahrheit, die sich hinter der größten Katastrophe in der Geschichte des britischen Sports verbirgt.